Kapitel 1 - Die Leere in mir

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Das Rascheln der Blätter im Wind übertönte für eine schwerelose Sekunde die eintönige Rede des Schulleiters. Mit schweren Lidern hob ich den Blick und betrachtete das Funkeln der Sonne in den Baumwipfeln. Ein azurblauer Vogel hockte auf einem Ast und beobachtete die Menschenansammlung. Er bemerkte, dass ich ihn ins Visier nahm, und legte den Kopf schräg. Unmittelbar sah ich das Gesicht meines Bruders vor mir. Er war ein Meister darin, sein Haupt in diese Position zu bringen, ohne dabei die Miene zu verziehen. Vor allem, wenn er etwas um Schilde führte. Viel zu lange hatte er mich nicht mehr so angesehen.

Zwei Monate ohne Godric.

Eine tiefe Stimme riss mich aus dem sich anbahnenden Gedankenstrudel über meinen toten Bruder. »Kommt es dir auch so vor, als hättest du jede Rede des Direktors schon x-mal gehört?«

Erschrocken schnappte ich nach Luft und drehte mich dem Schuldigen zu. Dominik lächelte gequält, die schwarze Haut seines symmetrischen Gesichts war von Schweißperlen überzogen, so als wäre er den Weg von der Akademie bis zur Lichtung gerannt und in letzter Sekunde pünktlich angekommen. Mit verschränkten Armen stierte er gen Podest, auf dem hinter Direktor Goldbach die drei prominentesten Drachenwandler von Immerherz standen: Adalar, Hayley und mein älterer Bruder Draca.

Ihn dort zu sehen, versetzte mir einen zusätzlichen Stich ins Herz. Seit ich durch Godrics Tod im Sommer meinen engsten Vertrauten verloren hatte, schien auch Draca verändert.

Viel Zeit hatten wir nie miteinander verbracht, doch nachdem er sich als die Reinkarnation einer der ersten Drachen und Weltenhüter entpuppt hatte, lebten wir in verschiedenen Sphären.

Draca und Hayley gaben ein Traumpaar ab. Ich liebte sie beide, sie waren meine Familie. Ihre Jahrhunderte alte Innigkeit mitzuerleben, während ich einen unendlich langen Sommer der Trauer durchmachte, kostete mich den letzten Nerv. Anstatt sich mit mir und meinem Schmerz auseinanderzusetzen, fühlten sie sich plötzlich zu Höhrem berufen und beschäftigten sich mit den Problemen der Welt. Mag sein, dass meine Erwartungshaltung egoistisch war – aber ich hatte verdammt nochmal meinen Zwillingsbruder verloren! Es quälte mich, nicht mehr im Fokus ihrer Aufmerksamkeit zu stehen. Sie waren mit allem beschäftigt, nur nicht mit mir.

Die Freundin, die ich zu Beginn des Sommers in Hayley gefunden glaubte, riss mir das Schicksal genauso erbarmungslos aus den Händen, wie meine Brüder. Abgesehen davon wäre ohnehin niemand durch die ermattende Melancholie gedrungen, die mich fest im Griff hatte. Godrics Tod warf mich völlig aus der Bahn.

Alles war anders.

Leer.

Still.

Ich empfand nichts als den marternden Schmerz über seinen Verlust. Er existierte schlicht und einfach nicht mehr.

Der Applaus der versammelten Schüler unterbrach mein Selbstmitleid. Hayley, Draca und Adalar traten ans Mikrophon, um Godric einen kurzen Nachruf zu widmen, der eine Schweigeminute einleitete. Am liebsten wollte ich mir die Ohren zuhalten. Niemandem fehlte er so wie mir. Die meisten hier hatten ihn entweder nicht gekannt oder dafür verachtet, dass er ein Halbvampir war.

Ich kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an, während Draca von seinem kleinen Bruder sprach.

Dominik, den ich mittlerweile komplett ausgeblendet hatte, legte seine Hand in meine Armbeuge. Seine beruhigenden Lichtbringer-Kräfte drangen sanft in meinen Körper, lösten mit Leichtigkeit den Kokon von Bitterkeit und Verzweiflung auf und für eine Sekunde befreite er mich von diesem schrecklichen Zustand.

Aber es war nicht echt.

Ich schuldete es ihm, zu trauern. Er war der wichtigste Mensch in meinem Leben.

Lichtbringer Akademie: Drachenzauber (Buch 2 der Romantasy Jugendbuch-Reihe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt