Kapitel 16 - Prägung

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„Und wie war euer Abend noch?" Ich gab Michelle mein Stück Schokolade, welches mir auf meinem Tablett in der Cafeteria gereicht wurde. Wir haben uns lange nicht mehr in der Cafeteria des Krankenhauses getroffen. Im letzten Jahr hatte Michelle mich jeden Morgen vor ihrer Schicht an der Tankstelle besucht.
„Es war wundervoll." Michelle rührte verlegen in ihrem Latte. „Ross verzaubert mich und wir haben so viel Spaß, natürlich auch außerhalb des Bettes." Ein Grinsen huschte über ihre Lippen. Sie hatte ihre blonden Haare heute gelockt und es stand ihr wirklich gut. „Ich habe diesmal wirklich ein anderes Gefühl, El."
Ich zog musternd eine Augenbraue hoch.
„Davon musst du mich noch etwas mehr überzeugen." Wir lachten und sie gab mit einem Schulterzucken zu, dass ich doch recht hatte.
„Und nun zu dir und Aiden." Ihr aufgeregter und neugieriger Blick bohrten sich in mich hinein.
„Was?", fragte ich.
„Na wie was? Ella, wir sind nun endlich alleine und ich möchte bitte jedes Detail. Du darfst gerne mit seinem muskulösen Körper anfangen." Sie tat so, als wäre sie heiß auf Aiden. „Ist er eher Mr. Blümchensex oder eher Mr. Grey. Oh warte, lass mich raten. Sein Spielzimmer übertrifft das von Mr. Grey."
„Michelle...", kicherte ich. „Du weißt doch, ich schweige und genieße."
„Ellanie Mercer", verurteile sie mich, „das habe ich bei jedem Wolf und auch jahrelang akzeptiert, aber bei dem Alpha der Westküste werde ich mich mit solch einer Aussage nicht abservieren lassen."
Ich schaute verlegen auf das Brötchen vor mir.
„Mr. Grey", log ich. Woher sollte ich das auch wissen? Aber ich musste Michelle mit Informationen füttern.
„Oh mein Gott ist wusste es!" Sie sprang fast auf und griff nach meinen Händen. „Man sieht es in seinem Gesicht. Alleine sein Blick lässt einem doch butterweich werden." Da hatte Michelle recht.
„Okay und erzähl, was habt ihr bisher so gemacht?"
„Michelle, das geht zu weit." Ich spürte die Verlegenheit in mir aufkommen.
„Gut, nur zwei Fragen, dann lass ich dich für heute in Ruhe", zwinkerte sie mir zu.
„Nur zwei." Ich sah sie warnend an.
„Küsst er dich beim Sex?" Bei der Frage dachte ich an unsere sehr gefährliche Situation vor zwei Tagen. Er hatte mich nicht geküsst und auch keine Anstalten dazu gemacht.
„Nein", preschte es aus meinem Mund heraus.
„Hat er dir gesagt, dass er dich liebt? Zumindest beim Sex?"
„Nein." Ihr Blick veränderte sich. Eben war sie noch so euphorisch und nun eher still.
„Oh", sie sah auf meine Hände. „Ella... ich will dir nichts schlechtes einreden, aber das klingt für mich so, als..."
„Als was?" Was wollte sie mir damit sagen?
„Naja er fühlt nicht das, was du fühlst." Ich wusste nicht wieso, aber es traf mich direkt in meiner Brust. Als würden Steine auf mir liegen, atmete ich schwer ein.
Natürlich nicht. Wie auch? Das hier war alles Fake, außer die Hitze, die uns packte.
„Wer ist das, El?" Michelle's Gesicht glühte, während sie hinter mir jemanden beobachtete. Ich sah mich um und Josh kam auf mich zu. Josh registrierte, dass ich nicht alleine hier saß und hielt so abrupt an, als wäre er mit seinem Kopf gegen ein Straßenschild gelaufen. Michelle und er tauschten Blicke aus, die es für mich unangenehm machten dabei zu sein. Ich sah abwechselnd zu Michelle und dann zu Josh.
„Kennt ihr euch?" Ich wollte die unangenehme Stille auflösen. Josh sah Michelle an, während er mit mir sprach.
„Hey Ella, nein, stellst du uns kurz vor?"
„Klar", entgegnete ich. „Josh, das ist Michelle, meine beste Freundin."
Sie reichten sich die Hand, als wären sie paralysiert. Michelle, die sonst sofort los quatschte, gab keinen Ton von sich.
„Freut mich sehr, Michelle." Josh's Tonlage änderte sich. Ich fühlte mich so unwohl, dass ich mein Brötchen liegen ließ und aufstand.
Was zur Hölle soll das?
„Okay, ich werde dann mal gehen. Mi, meldest du dich später bei mir?"
Sie nickte und konnte mich dabei nicht ansehen. Ihre Augen fixierten sich auf Josh.
„Ella, ich wollte mit dir reden." Josh hatte sich aus der seltsamen Situation gelöst und sah mich nun an.
„Wieso? Ich wollte noch kurz einkaufen, bevor ich wieder arbeiten muss", entgegnete ich ihm.
„Es ist wichtig, wollen wir kurz rausgehen?"
„Okay." Ich zuckte mit den Schultern und griff nach meiner Jeansjacke, die über meinem Stuhl hing. Josh sah nochmal zu Michelle. Er wartete darauf, dass ich weiter weg war, damit ich nicht hören konnte, was er zu ihr sagte. Es klappte tatsächlich. Ich ärgerte mich, dass ich durch meiner engen Bindung zu Michelle ihr Gespräch nicht belauschen konnte.
Ich stand bereits draußen in der heißen Vormittagssonne von Dallas und beobachtete die Leute, die das Krankenhaus besuchten und verließen.
„Entschuldige, dass ich dich warten ließ."
„Erklär mir bitte, was das eben war." Ich kam ihm gefährlich nahe. „Was hast du mit Michelle gemacht?"
„Ella", sagte er lächelnd. „Ich habe gar nichts mit ihr gemacht." Seine hellen Wangen färbten sich plötzlich rot.
„Ich verstehe nicht..." Ich runzelte meine Stirn.
„Es gibt was wichtigeres, als das hier." Josh wollte das Thema wechseln.
„Ach ja?", entgegnete ich ihm schnippisch. „Was da wäre?"
„Ich bin hier, weil ich mit dir über Aiden reden möchte und bitte, schick mich nicht gleich weg, es ist wirklich wichtig."
„Du willst mit mir über Aiden reden? Wenn du was von ihm erfahren möchtest, frag ihn gefälligst selber. Du bist immerhin sein Beta."
„Jetzt weiß ich, wieso du Aiden so gefällst." Josh grinste über meine Schlagfertigkeit und Frechheit. Es war in der Tat nicht normal, dass jemand vor der höchsten Elite kein Blatt vor dem Mund nahm. Aber was kümmerten mich gerade die Traditionen und Manieren? Ich lebte seit Wochen in einer anderen Welt, in der ich nicht sein wollte und nun schien Josh auch noch irgendwas mit meiner besten Freundin angestellt zu haben.
„Sag mir, was du von mir willst." Ich wollte keine weitere Zeit verschwenden.
„Ich weiß, dass du mir vielleicht nicht glauben wirst, aber Jocelyn und Aiden...", er sah kurz zur Seite um dann fortzufahren, „sie haben vor Kurzem noch miteinander geschlafen. Ich fürchte, dass da von beiden Seiten aus noch was ist."
Damit hatte ich definitiv nicht gerechnet. Ich schwieg einen Augenblick und versuchte angemessen zu reagieren.
„Warum erzählst du mir das?" Eine Gegenfrage empfand ich als perfekt.
„Weil du viel zu jung für Aiden bist, Ella. Er ist vielleicht dein erster Freund. So hoch er deine Gefühle gerade bringt, er wird sie danach tausend mal stärker in die Tiefe treiben."
„Danach?" Ich fühlte mich benommen vor lauter Lügen.
„Wenn die Hitze vorbei ist." Josh schien sich seine Worte nicht wirklich zurechtgelegt zu haben.
„Ich danke dir." Er wirkte nun verwirrt. Er hätte eher damit gerechnet, dass ich Aiden und mich verteidigen würde oder mich über Aiden aufregen würde. Ihn verfluchen würde.
„Was heißt das? Willst du ihn verlassen?"
„Nein, aber du solltest diesen Ort nun verlassen, denn Aiden wird hier gleich auftauchen." Ich wollte keinen Streit. Ich sollte Aiden auch nicht erzählen, das Josh hier tat. Er war seine rechte Hand und fiel ihm mit voller Wucht in den Rücken.
„Ella, bitte nehme dir meine Worte zu Herzen, er wird dich stärker verletzen, als du dir vorstellen kannst." Wieso war Josh so besorgt um mich? Er kannte mich doch kaum?
„Bist du auch noch dieser Meinung, wenn ich dir sage, dass Aiden meine Markierung trägt?" Ich musste diesen Joker ziehen. Unsere Beziehung musste weiterhin echt wirken und die Markierung untermauerte dies sehr gut.
„Du hast ihn markiert?" Josh griff nun nach meinem Arm und zog mich ein wenig zur Seite. „Ella, lügst du mich an? Er hat sich von dir beißen lassen?"
„Ich sagte es dir doch eben. Lass mich los." Ich versuchte seine überraschte Reaktion zu verstehen und zog meinen Arm aus seiner Hand.
„Das ist unmöglich, sowas würde Aiden niemals zulassen." Josh lachte nun und hielt sich fast verzweifelt die Stirn.
Warum überrascht dich das so sehr?
„Frag ihn doch selber", giftete ich Josh an. Josh drehte sich um und sah in die Augen seines Alpha's.
„Was soll Josh mich fragen?" Aiden warf erst einen Blick zu Josh, danach zu mir.
„Schon gut, schon gut." Josh versuchte sich aus der Situation zu retten, doch ich konnte nicht locker lassen.
„Aiden, Josh glaubt mir nicht, dass du meine Markierung trägst." Ich fühlte mich wie eine Petze, doch die ganze Situation, seit dem Josh in die Cafeteria kam, fühlte sich durchgehend falsch an.
„Es stimmt." Aiden musterte Josh. Da Aiden seine Haare heute zusammengebunden hatte, konnte man den Biss sogar zur Hälfte erkennen. Josh's Augen weiteten sich. Ich spürte wie viel Anspannung zwischen uns Dreien herrschte und wäre am liebsten weggelaufen. „Also, was habe ich verpasst?"
„Aiden, scheiße, man." Josh ging näher auf ihn zu. Es sah bedrohlich aus, wenn so zwei große, muskulöse Wölfe sich so nahe kamen. „Du hast Gefühle für dieses Kind?" Die Betonung auf >Kind< ließ mich ihm einen wütenden Blick zuwerfen. Was bildete er sich ein?
„Was versuchst du hier?" Nun wurde auch Aiden von aufsteigender Wut gepackt. Ich ging zwei Schritte zurück. Genau so, wie Aiden es klar wurde, wurde es auch mir klar.
„Sie ist ein Kind, sie wird kein Rudel führen können. Ich versuche dich aufzuhalten vor etwas, was du nicht Rückgängig machen kannst." Josh ging es nur darum, dass er Angst um das Rudel hatte. Es ging ihm nicht darum, dass ich eventuell von Aiden verletzt werden könnte. Ich sollte Aiden verlassen, weil Aiden mit Jocelyn geschlafen hatte. Steckte Jocelyn da mit drin? War das deren Plan um uns auseinander zu bringen?
Wenn sie nur wüssten...
„Vor was willst du mich aufhalten?"
„Du darfst dich nicht mit ihr verbinden. Sie wird uns alle in Gefahr bringen. Empfindest du Ella als unterwürfig, großzügig und gutmütig, was die Tradition von der Rudelfrau verlangt zu sein? Kannst du dir vorstellen, dass sie deine Kinder gebärt? Ich kenne dich Aiden, du fickst sie und es macht dich an, weil sie 10 Jahre jünger ist, als du. Aber ihr geht zu weit."
Ich verschränkte meine Arme nun vor meiner Brust. Obwohl Aiden und ich die Schein-Beziehung nach der Hitze auflösen werden, spürte ich, wie sich eine Schnur um mein Hals legte. Unfähig noch ein Wort aus meinem Mund zu bekommen. War ich wirklich so ein schlechter Mensch? Ich fühlte mich gedemütigt und das auch noch vor Aiden. Dachte er eventuell genau so?
„Du kennst sie überhaupt nicht und wagst es, vor meiner Anwesenheit, der Anwesenheit deines Alphas, so über meine Freundin zu reden?" Aiden flüsterte es. Ich bekam Angst bei dem Anblick.
„Ich sehe aber, wie du dich verändert hast, seit dem du sie kennst. Sie lebt gegen das Rudel, gegen unsere Tradition, Aiden."
„Vergiss nicht, wer hier vor dir steht." Aiden sagte die Worte so deutlich und langsam, dass auch mein Herz schneller anfing zu schlagen. „Du wirst dich jetzt in dein Auto setzen und zum Elitehaus fahren. Wenn ich dich später nicht in meinem Büro antreffe, dann gnade dir Gott."
Josh rannte fast davon. Ich blieb wie angewurzelt stehen und hatte fast vergessen zu atmen. Ich ließ die Eindrücke auf mich wirken und bekam erst jetzt mit, dass andere Patienten des Krankenhauses auf uns aufmerksam geworden waren. Sie konnten uns nicht gehört haben, doch sie sahen uns an. Sie starrten. Es waren alles Menschen, die zum einen beeindruckt von der Schönheit unserer Wesen waren, aber zum anderen verängstigt über die zwei Männer, die sich hätten hier auf öffentlicher Straße töten können.
„Ella?" Aiden kam näher zu mir. „Ist alles okay?"
„Ja", ich flüsterte und sah ins Leere, „ja, alles okay." Meine Arme waren noch fest vor meinem Brustkorb verschränkt.
„Ich musste ihn zurechtweisen, er darf nicht so mit mir reden und vor allem nicht so, über dich." Er strich eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. Wieso tat Aiden das? Tat er das, weil er den Schein wahren wollte oder weil er es wirklich tun wollte? „Er kann es nicht anders wissen. Ich kann ihm nicht erzählen, dass wir das hier alles nur spielen, damit wir Beide bestmöglich aus der Situation kommen. Josh macht sich Sorgen um das Rudel und er weiß, dass du nicht das Sinnbild der Rudelfrau entsprichst. Er macht nichts falsches." Aiden griff nach seinem Autoschlüssel. „Hast du Lust was zu essen?"
Ich blinzelte ein paar mal um das, was hier gerade passierte, ein wenig sacken lassen zu können. Ich entsprach also nicht dem Bild der Frau, wie sie im Buche steht? Hatte deswegen bisher kein Wolf ernsthaftes Interesse an mir? Weil ich nicht unterwürfig genug war? Da hatte Josh recht, das war ich nicht. Gutmütig und Großherzig jedoch schon, nur nicht zu ihm.
„Nein, ich muss gleich arbeiten. Ich wollte eigentlich einkaufen, aber dann tauchte er hier auf und hypnotisierte Michelle, bevor er mich hier draußen alleine sprechen wollte."
„Was hat er getan?" Aiden ließ seinen Schlüssel wieder in seine Hosentasche fallen und kam noch einen Schritt näher auf mich zu. Seine Brust spannte sein dunkelblaues Hemd auseinander.
„Aiden, die Leute starren uns an. Das hier ist meine Arbeit, kannst du etwas?..." Ich deutete darauf, dass er ein wenig von mir weg ging und sah in sein angespanntes Gesicht. „Und ein wenig freundlicher gucken?"
„Erzähl mir bitte, was er getan oder gesagt hat." Aiden drängte ungeduldig.
„Er hat mir gesagt, dass du mit Jocelyn geschlafen hast, ich hab aber so getan, als wüsste ich von nichts. Wir sind nicht aufgeflogen."
„Nein, nein", unterbrach er mich. „Was hat er mit Michelle getan?"
Verblüfft über sein Interesse Michelle gegenüber runzelte ich meine Stirn.
„Eigentlich gar nichts. Er kam zu uns an den Tisch, sah erst mich und dann Michelle. Keine Sekunde später waren beide wie paralysiert. Ich konnte bisher..."
„Hat Michelle etwas zu dir gesagt?" Ich verstand nicht, wieso Aiden so auf Michelle fixiert war.
„Nein, wie gesagt, sie konnte nicht mal ihre Gesichtszüge kontrollieren. Sie starrte ihn einfach nur an."
„Verdammte Scheiße." Aiden griff sich an die Stirn.
„Jetzt wirkst du auf mich genau so verrückt, wie die Beiden. Was habe ich hier nicht mitbekommen?"
„Ella." Er atmete tief ein. „Sie sind aufeinander geprägt."
„Geprägt? Gegenseitig? Das ist nicht möglich. Ich dachte sowas gäbe es nur in Geschichtsbüchern unseres Rudels. Vielleicht war es auch etwas anderes, ich sollte hineingehen und nach ihr sehen." Ich versuchte ruhig zu bleiben. Wenn Michelle sich auf Josh geprägt hatte, hieße es, dass sie kein Leben mehr ohneeinander führen könnten, ob sie wollten oder nicht.
„Ruf mich nachher an, ich muss es wissen. Ich werde Josh gleich in meinem Büro treffen und das klären."
„Okay." Ich konnte meinen Einkauf nun vergessen. Meine Pause war längst vorbei.
„Er hat übrigens absolut unrecht." Aiden berührte mit seinem Daumen und seinem Zeigefinger mein Kinn. „Du bist vielleicht nicht die traditionelle Frau, wie sie als Untergebene des Alpha's im Buch steht, aber du bist großzügig und gutmütig. Auch humorvoll, wissbegierig, geerdet und schlau." Ich wollte meinen Blick senken, weil ich lachen musste, doch er hob mein Kinn wieder hoch, sodass ich ihn anschauen musste.
„Und unwiderstehlich." Ich hatte vergessen, dass er mich berührt hatte und mich riechen konnte. Diese Hitze verlangte alles von uns ab und sie schien nie zu enden. Er küsste meine Stirn und verließ damit das Krankenhausgelände. Ich war froh, ihn nicht berührt zu haben. Sonst wären meine Gedanken in dieser Schicht definitiv nicht da, wo sie sein sollten.

Mein Millennium WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt