36. Kapitel

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„Es war vor einem und einen halben Jahr gewesen. Ich war im Heim dieser Aussenseiter. Ich wollte mit keinem anderen etwas zu tun haben, und habe mich komplett zurückgezogen. Ich ging zur Schule, die in der Stadt war, und bin dann wieder in mein Zimmer. Im Sommer saß ich draußen auf dem Rasen und habe Musik gehört. Musik war das einzige, das mich das dort durchhalten ließ. Keiner beachtete mich und wenn das jemand tat, dann nur um den Kopf zu schütteln und zu sagen, dass ich es nicht reißen würde. Du weißt nicht, wie in mir dabei die Wut sich aufgebaut hatte. Ich lernte immer mehr und mehr, damit ich es ihnen zeigen konnte. Und dann kam sie eines Tages."

Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Seine Schrammen im Gesicht ließen ihn noch verletzlicher wirken, als er gerade schon war.

„Sie war wunderschön. Ich habe sie schon öfter auf dem Gelände des Heims gesehen. Ihre blonden Locken hatten in der Sonne geglänzt. Ihr Gesicht war perfekt. Ihr Körper genauso. Sie war an diesem einen Tag, an dem meine Laune am Nullpunkt war zu mir gekommen. Sie hatte sich neben mich an den Baum gelehnt. Sie sprach mich an und fragte, was ich hören würde. Sie erzählte mir, dass sie mich wohl schon länger beobachtet hätte und sich öfters gefragt hatte, was ich für Musik hören würde. Ich hatte versucht sie abzublocken, was ich dann auch geschafft habe. Sie war aufgestanden und wieder gegangen. In dem Moment habe ich mich wie das letzte Arschloch gefühlt."

Er atmete tief durch und mein Kopf wurde leicht angehoben. „Am nächsten Tag kam sie wieder. Sie fragte mich wieder die gleiche Frage und diesmal gab ich ihr eine Antwort. Sie sagte mir, dass sie Lou hieß. Sie fragte, ob sie mithören könnte und ich gab ihr meine Kopfhörer. Ich zeigte ihr all die Musik, die ich mochte. Sie wußte viel über die verschiedenen Musiker, die sonst keiner kannte. Und das beeindruckte mich immer mehr. In dem Sommer freundeten wir uns an. Wir unternahmen alles und sie stellte mir ihre Freunde vor. Irgendwann begann ich aber Gefühle für sie zu entwickeln und sie genauso für mich. Also probierten wir es mit einer Beziehung. Es war wunderschön. Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich keine Beziehungen anfange. Das war meine erste und letzte Beziehung. Sie war der Grund weshalb. Lou war wunderschön. Sie hatte so einen Tatendrang und wollte jeden Tag zu dem schönsten ihres Lebens machen. Wir unternahmen immer was. Sie erwachte mich wieder zu Leben. Dieser Sommer war zu einer der schönsten meines Lebens geworden. Wir stritten uns natürlich auch, aber es war nie von großer Bedeutung. Doch dann kam dieser eine Tag." Er atmete noch tiefer durch und drückte seine Hände zusammen. Ich nahm seine eine Hand in meine und zeigte ihm damit, dass er weiter erzählen soll.

„Wir lagen auf ihrem Bett und hörten Musik. Wir taten dies fast jeden Tag. Sie war kurz aus dem Zimmer gegangen und holte Essen aus der Küche. Ihr Handy hatte neben mir auf dem Nachtisch geklingelt. Ein Junge namens 'Dylan' hat angerufen. Ihre Eltern kannten mich schon und ich wusste, dass sie diese unter 'Dad' und 'Mum' eingespeichert hatte. Also wunderte ich mich. Ich ging ran, ohne meinen Namen oder irgendwas zu sagen. Ich weiß noch ganz genau, was dieser Junge oder Mann gesagt hat. 'Hi Lou, Schatz! Ich bin bei dir in der Stadt. Kommst du zu unseren Stammplatz, dem Brunnen?! Ich habe dich vermisst. Bis gleich, ich liebe dich.' Er hatte auf keine Antwort von Lou gewartet. Er hat einfach aufgelegt." Ich atmete scharf ein und ich merkte, wie er sich verspannte.

„Sie hatte einen Freund. Schon seit zwei Jahren und hatte mir nie, NIE davon erzählt. Sie war in dem Moment ins Zimmer gekommen, in dem er aufgelegt hatte und ich war ausgerastet. Habe sie angeschrien, was das sollte. Habe ihr gesagt, wer angerufen hatte und sie war zusammen gezuckt. Lou hatte angefangen zu heulen. Sie erklärte mir, dass Dylan ihr Freund gewesen sei und sie beim nächsten Mal mit ihm Schluss machen wollte. Doch sie habe ihn nicht gesehen, seit sie mit mir zusammen sei. Ich hatte ihr drei Tage zuvor 'Ich liebe dich' gesagt und sie hatte nicht geantwortet, weil sie dies wohl komisch fand. Sie wollte es ungezwungen machen. Also ließ ich ihr Zeit. Doch an dem Tag ließ ich ihr keine Zeit mehr. Ich fragte sie, für wen von uns beiden sie Gefühle hätte. Sie sagte mir, dass sie mich lieben würde, doch ich glaubte ihr nicht. Wie soll man jemanden glauben, der einen durch und durch angelogen hatte?! Ich fühlte mich so betrogen und einfach wie Dreck. Sie sagte, dass sie jetzt in die Stadt fahren würde und Schluss machen würde. Sie schnappte sich ihr Handy und rief ein Taxi zum Heim. Ich sagte ihr, dass sie mich mal kam und war raus gerannt. Sie hatte mir hinterher gebrüllt, dass sie mich lieben würde und sie nachher wieder zu mir kommen würde. Ich glaubte ihr nicht. Ich setzte mich auf meinem Stammplatz, dem Platz unter dem Baum, wo wir uns kennengelernt hatten. Sie kam aus dem Gebäude und lief auf das Taxi zu, das auf sie wartete. Es begann zu regnen. Das Taxi fuhr weg und ich sah noch, wie sie mich kurz erblickte. Ihre Augen waren verheult gewesen." Er machte eine Pause und ich guckte ihn gespannt an.

My Adoptive BrotherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt