Jedes Wort schnitt tief in Blains Herz. Wie konnte man einem Kind so etwas antun? Er hatte ab dem Zeitpunkt, an dem seine Eltern erkannt hatten, dass er ihrer Linie nicht folgen würde, ebenfalls keine Zuneigung mehr erfahren. Nicht dass das vorher übermäßig der Fall gewesen war, doch solch einen Missbrauch hatte er niemals durchstehen müssen. Deshalb spielt er seine Rollen so perfekt. Er ist ein Schatten, keine Person. Er hat alles abgelegt, was ihn ausmacht. Schatten nahmen die Form an, die die Objekte ihnen gaben, und genau das hatte seine Mutter getan. Das wahre Monster war seine Mutter.
„Lynn. Möchtest du wissen, was ich gedacht und gespürt habe, als du das erste Mal auf mir gesessen bist?", fragte er seinen Liebsten.
Dieser schaute ihn überrascht an. Lynn hatte damit gerechnet, dass Blain ihn bemitleidete oder tröstende Worte aussprach, aber nicht damit. „Was?", erwiderte er leise. Die Nacht stand ihm klar vor Augen.
Mit einer fließenden Bewegung öffnete Lynn das Fenster, das er zuvor ausgekundschaftet hatte. Wie ein Schatten wanderte er hindurch und im nächsten Moment stand er vor seinem Opfer. Das Mondlicht schien auf dessen Körper, doch es erreichte nicht dessen Gesicht. Zeit, dein Ende zu finden.
Grüne Augen blickten in seine, doch er hielt nicht inne, saß im nächsten Moment auf dem Dämon. Dieser bewegte sich, seine Augen starrten nach wie vor in seine. Der Vorhang wehte durch eine leise Brise zur Seite und das Mondlicht fiel auf das Gesicht des Dämons unter ihm. Das war der Augenblick, in dem er es wusste. Es war der Moment, in dem sich alles änderte. Seine Hand fuhr nach unten und stieß den Dolch in die Brust seines Herzens.
Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Dämons aus und eine tiefe Stimme erklang: „Würdest du mir noch den letzten Wunsch erfüllen und mir deinen Namen verraten, Floare?"
Dieser Moment war immer noch unwirklich für Lynn. Sie hatten noch nicht über diese Nacht gesprochen.
„Ich habe in deine Augen geblickt und habe zum ersten Mal einen tiefen Frieden gespürt, eine Ruhe, die ich nicht beschreiben kann. Dein Geruch, deine Augen, deine Haare. Es war wie ein Traum, denn alle Last auf meinen Schultern verschwand und ich fühlte mich frei. Der einzige Gedanke war: Der Tod ist wunderschön. Alles, was ich in diesem Moment wollte, war deinen Namen zu erfahren, denn ich wusste, er ist so wunderschön wie dein Antlitz", sagte Blain und fuhr durch die weichen Haare seines Liebsten. Sie glitten durch seine Hände wie Wasser, waren so weich.
Der Tod ist wunderschön. Er hat recht, ich bin der Tod. Lynn hatte den Tod niemals als etwas Schönes empfunden. Er war einfach nur kalt. In seiner Brust breitete sich eine tiefe Wärme aus. In diesem Moment wusste er, wieso seine Großmutter das Risiko eingegangen war und mit Rio den Bund geschlossen hatte. Lieber lebe ich zehn Jahre an der Seite meines Herzens, spüre dieses tiefe Glück, als hunderte ohne ihn. Macht alleine macht nicht glücklich. Er war sich nun sicher, dass seine Großmutter gewusst hatte, was ihr bevorstand und doch hat sie es nicht verhindert. Lynn würde es anders machen, er würde Blain zu seinem Gefährten machen und ihn beschützen. Er würde eine Zukunft mit ihm haben, die nur ihm gehörte.
Ein klickendes Geräusch ließ sie zum Fenster schauen. Ein Rabe klopfte mit dem Schnabel gegen die Fensterscheibe und bat um Einlass. Lynn erhob sich und lief zum Fenster, um dieses zu öffnen, sodass der Botenrabe in das Zimmer konnte.
Blain betrachtete das Profil seines Liebsten und spürte erneut das Begehren in seinem Körper aufflammen. Ich werde niemals genug von dir bekommen. Er wollte seinen Dämon erneut in seine Arme ziehen und ihn unter sich begraben. Er wollte die Ekstase in dessen Gesichtszügen sehen, seine Stimme hören. Er war nie jemand gewesen, der gierig war, der von etwas besessen gewesen war. Sein Herz hatte nie an etwas gehangen, doch dieser Dämon war seine Passion, seine Nemesis. Er war etwas, das Blain nur für sich haben wollte.
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Lynn - ein schicksalhafter Auftrag (Novelle 6.5) ✅️
Fantasy„Wenn ich schon nicht deinen Namen erfahren darf, darf ich dann wenigstens von deinen Lippen kosten?", fragte er. Die Augen schienen heller zu erstrahlen, doch mit einem Mal waren sie fort. Eine Hand hatte sich auf seine Augen gelegt. Der Assassine...