Kapitel 12

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Lynn konnte sich kaum zurückhalten. Die Wut schoss durch seine Adern. „Wie kannst du sie einfach so davonkommen lassen?", fragte er aufgebracht. Sein Dämon schaute ihn ruhig an, zog ihn in seine Arme.

„Es ist alles in Ordnung. Es ist vorbei. Ich bin frei und endlich können wir gemeinsam ein Leben beginnen, Floare."

Blain beruhigte ihn, doch die Bitterkeit in Lynn wuchs. Nein, das können wir nicht. Es ist noch nicht vorbei. Er war so wütend. Wütend über den Umstand, dass Blains eigene Mutter ihn hatte ermorden lassen wollen, dass der Clan einen anderen geschickt hatte, dass er ihr einfach so zu vergeben schien. Die Zeit ist um. Er krallte sich an Blain fest, atmete seinen Duft ein, spürte seine Wärme. Ich muss dich beschützen. Er wollte ein gemeinsames Leben mit diesen Dämon, er wollte endlich seinen Frieden finden, glücklich sein.

Du weißt, was du zu tun hast, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf.

Ja.

Langsam löste er sich von Blain. Dieser beugte sich nach unten und küsste ihn. Ein letztes Mal. Also ergriff er die Hand seines Dämons, zog ihn mit sich. Es war nichts Zärtliches, es war roh und wild. Er nahm sich seinen Dämon, nahm sich alles. Sie liebten sich und schliefen gemeinsam ein.

Als der Mond hell das Firmament erleuchtete, stand Lynn auf. Blain schlief tief und fest, würde nicht aufwachen. Lautlos stand er auf, stellte sich vor seinen schlafenden Gefährten. Das Mondlicht schien wie damals auf dessen Gesicht. Sein Herz zog sich zusammen, doch er würde nicht hadern. Also nahm er ein Messer, umgriff seinen Zopf und schnitt ihn mit einer flüssigen Bewegung ab. Seine nun kurzen Haare reichten ihm nun nur noch bis zum Kinn, umrahmten sein Gesicht. Daraufhin legte er seinen Zopf neben seinen Gefährten. „Wenn ich dich das nächste Mal sehe, werden wir unser Leben beginnen." Ein letzter Kuss landete auf Blains Lippen, dann ging er.

Er ließ Blain ein letztes Mal alleine zurück.

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Die Sonne wanderte gerade über den Horizont, als Blain erwachte. Ein beklemmendes Gefühl hatte ihn erfasst und er griff nach links, traf auf Leere. Sofort drehte er sich um und erstarrte. Neben ihm lag Lynns Zopf – er war fort. Was?

„Wurde Zeit, dass du erwachst", erklang eine weibliche Stimme.

Sofort sprang er auf, nahm eine Kampfposition ein.

Die Frau, die auf dem Fensterrahmen saß, hielt sich die Hand vor die Augen. „Hölle, zieh dir etwas an. Ich habe nicht den Wunsch, den Gefährten meines Bruders unbekleidet zu sehen."

Blain erstarrte. Sie sieht aus wie Lynn. Ein weibliches Spiegelbild. Misstrauisch nahm er seine Hose und zog sie sich über, ohne die Frau auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. „Wer bist du und wo ist Lynn?"

Die blauhaarige Dämonin nahm die Hand vom Gesicht und schaute ihn musternd an. „Geschmack hat er, das muss ich ihm lassen", sagte sie und leckte sich über die Lippen. „Ich heiße Laurana und bin Lynns Zwillingsschwester."

„Warum bist du hier?" Trotz allem traute er ihr nicht, auch wenn Lynn von ihr berichtet hatte. Wie lange sitzt sie dort schon? Waren Leviathans Abwehrmechanismen so nutzlos, dass Assassinen einfach in sein Zimmer spazieren konnten, wann sie wollten?

„Die Barriere ist intakt. Sie lehnt mich nur nicht ab, weil ich Lynns Spiegel bin. Sie erkennt mich nicht als Feind. Du bist also sicher", sagte Laurana, was ihn etwas beruhigte. „Nun zu deiner Frage über den Aufenthaltsort meines Bruders. Keine Sorge, er hat dich nicht verlassen. Im Gegenteil, er kämpft gerade darum, für immer bei dir sein zu können."

Lynn - ein schicksalhafter Auftrag (Novelle 6.5) ✅️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt