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„Was ist los?", gibt Thea einfach nicht auf und klopft ungeduldig mit ihren schmalen Fingern auf meinen Schreibtisch.

„Nichts", blocke ich ab und drehe mir eine meiner braunen Haarsträhnen um den Zeigefinger, während ich Thea beobachte, die wirres Zeug auf ein Blatt Papier kritzelt.

„Lüg mich nicht an! Ich kenne dich besser, als alle anderen." Thea ist nur knapp zwei Jahre älter als ich, weswegen uns schon immer ein besonderes Band verbunden hat.

Ich habe außer ihr noch zwei andere Schwestern: Lillian und Moira. Lilli ist mit ihren 28 die Älteste von uns. Sie wurde letztes Jahr mit Fynn verheiratet und wohnt seitdem bei ihm in New York. Die beiden führen eine glückliche Ehe und haben inzwischen zwei Kinder. Moira ist 26 und musste letztes Jahr einiges durchmachen, sie ist nicht mehr die alte. Thea und ich wissen nicht genau was vorgefallen ist, aber es muss etwas sehr schlimmes gewesen sein. Sie war lange bei Lillian in New York und ist dann mit Luka, den sie dort kennengelernt hat, zurückgekommen. Die beiden wohnen in einem Appartement hier in Chicago und ich bekomme sie selten zu Gesicht.

Bis vor kurzem hatte ich auch noch einen Bruder: Quentin. Seinen Tod betrauert niemand, er war ein manipulatives Stück Dreck und hat nur für Ärger gesorgt.

„Es ist nichts", antworte ich Thea und verdrehe die Augen, „Ich bin einfach nur nicht so gut gelaunt." Aktuell habe ich noch nicht die Nerven, ihr von meiner anstehenden Hochzeit zu erzählen. Ich muss das alles selbst erstmal verarbeiten und brauche dabei keine Schwester, die mir Flausen in den Kopf setzt.

Thea würde mir bestimmt raten abzuhauen, wie damals Lillian. Sie wird nicht verstehen, in was für einer aussichtslosen Lage ich mich befinde. Hätte ich nicht zugestimmt, würde das das Ende unserer Familie bedeuten. Ich weiß was passiert, wenn eine der Familien an Macht verliert: Sie wird ausgelöscht - gnadenlos zerstört - und ein neuer Clan übernimmt die Stadt. Im Prinzip gibt es zwei Optionen: Nein sagen und für die Zerstörung des eigenen Clans verantwortlich sein oder Ja sagen und die Macht der Familie stärken. In diesem Fall siegt eindeutig meine Loyalität und mein Pflichtbewusstsein.

„Das glaube ich dir nicht", bleibt Thea jedoch hartnäckig und unterbricht ihr Gekritzel, um sich in meine Richtung zu drehen.

„Gut, dann halt nicht", zucke ich mit den Schultern und lasse die Füße von der Bettkante baumeln.

Thea und ich verbringen jeden Abend zusammen. Wir tauschen uns über den neusten Klatsch und Tratsch innerhalb unserer Organisation aus oder planen einen unserer unzähligen Partyabende. Thea und ich sind jung und wollen unsere Jugend genießen. Meinem Vater gefällt es nicht wirklich, dass wir durch die Clubs ziehen, aber er hat aufgegeben uns davon abzuhalten. Seine einzige Bedingung ist es, dass wir immer einen der Bodyguards dabei haben.

Gerade möchte meine Schwester zu einer Erwiderung ansetzen, da unterbreche ich sie: „Ich bin müde, lass uns morgen reden." Das ist meine höfliche Art, sie aus dem Zimmer zu schmeißen.

Thea kapiert das sofort: „Dein ernst jetzt?" Als ich nicht reagiere, sondern nur die Finger in meiner Decke vergrabe, springt die Blondine beleidigt auf und verlässt mein Schlafzimmer. Natürlich kann sie es nicht lassen und schlägt die Tür laut hinter sich zu. Thea war schon immer eine Drama Queen.

Leise atme ich aus und lasse mich zurück in die weichen Kissen fallen. Meine Gedanken fahren Karussell. Ich kann immer noch nicht ganz realisieren, was genau ich vorhin zugestimmt habe. Ich habe mein Einverständnis gegeben zu heiraten, um die Macht unserer Familie zu sichern. Immerhin bewahre ich so Thea und Moira vor dem gleichen Schicksal, das ist aber auch das einzig positive an der ganzen Sache.

Sollte ich Lilli anrufen? Ich brauche jemandem, mit dem ich offen über all das reden kann. Meine älteste Schwester war einst selbst in dieser Situation und lebt jetzt ein glückliches Leben, vielleicht kann sie mir ein paar Ratschläge geben.

Entschlossen nehme ich mein Smartphone in die Hand und wähle die Nummer von Lillian. Nervös beiße ich mir auf die Unterlippe. Wie soll ich ihr denn beschreiben, was passiert ist. Wird sie verstehen, warum ich zugestimmt habe? Verdammt sei meine soziale Ader. Warum will ich es auch immer allen recht machen? Ich hätte einfach Nein sagen und dabei zusehen können, wie Thea oder Moira heiraten.

„Ja? Annalise, was gibt's?", meldet sich Lillian und klingt erfreut. Im Hintergrund hört man ihren Ehemann leise reden und ich schätze, die beiden haben gerade Besuch.

„Oh, störe ich?"

„Nein, natürlich nicht", meint meine Schwester und entfernt sich von Fynn, um in Ruhe zu telefonieren.

„Ich-", setze ich an, weiß aber nicht, was ich sagen soll. Überfordert stehe ich auf und laufe unruhig in meinem Zimmer auf und ab.

„Was ist los?", kommt es alarmiert von Lillian und ich seufze: „Wusstest du das Vater schulden hat und die Familie kurz vor dem Ruin steht?"

„Was? Nein! Was braucht ihr?" Ich kann hören, wie geschockt sie ist, habe aber damit gerechnet, dass unser Vater das für sich behalten hat.

„Nichts, ähm - ich - ich werde heiraten", stoße ich hervor und kneife die Augen zusammen, als könnte ich mich vor ihrer Reaktion verstecken.

Kurz bleibt es still.

„Du verarschst mich, oder? Ich werde unseren Vater eigenhändig umbringen!"

„I-Ich habe zugestimmt", beichte ich und höre, wie Lillian scharf die Luft einsaugt: „Wie schlimm ist es?"

„Sehr schlimm."

„Warum hat er Fynn und mich nicht um Hilfe gebeten? Stattdessen verkauft er seine jüngste Tochter", regt Lillian sich auf, „Du kommst zu uns nach New York! Ich werde nicht dabei zusehen, wie du einen fremden Mann heiratest!"

Gerührt, von der Aussage meiner Schwester, lege ich mir die Hand auf's Herz. Sie ist einfach die beste.

„Du weißt, dass das nicht geht. Wenn nicht ich, dann Moira oder Thea", besinne ich mich wieder, „Und er hat euch nicht um Hilfe gebeten, weil wir dann erst recht eine Zielscheibe auf dem Rücken tragen würden. Das Bündnis zwischen uns und den Luchessés zählt erst, wenn Fynn das Oberhaupt der Familie ist und solange haben wir keinen Anspruch auf Hilfe." Lillians Ehemann leitet zwar inoffiziell die Mafia von New York, aber offiziell zählt sein Vater als Oberhaupt. Unsere Welt ist kompliziert und hat veraltete Anschauungen und Traditionen. Manchmal kapiere ich das alles selbst nicht so ganz. Eine Ehe zwischen den mächtigen Familien zählt mehr, als alles andere.

„Warum hast du angerufen?"

„Ich wollte einfach reden, ich kann es Thea noch nicht sagen. Sie würde es nicht verstehen."

„Ach, Annalise. Du bist zu gut für die Welt", seufzt Lillian, „Wen wirst du denn heiraten?" Genau wie ich es geahnt habe, versteht sie mich und verurteilt mich nicht.

„Ich habe keine Ahnung", meine ich und kapiere erst, als ich es ausspreche, die Bedeutung meiner Worte. Ich weiß nicht wen ich heirate. Ach du scheiße!

„Na, super", gibt Lilli ironisch von sich, „Das solltest du wohl besser herausfinden."

„Das stimmt wohl", muss ich wohl oder übel grinsen und beschließe, morgen nochmal mit meinem Vater zu sprechen.



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Versteht ihr, warum Annalise der Heirat zugestimmt hat?

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Saved Love | pausiert Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt