Kapitel 16

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Lydia rannte mich förmlich über einen Haufen, als es klingelte und ich aus dem Biologiesaal in die Aula trat. Ich kann bis jetzt nicht sagen, aus welcher dunklen Ecke sie plötzlich kam - sie war einfach da und riss mich mit ihrem Gewicht fast zu Boden; und erdrückte mich beinahe, als sie mich in eine, zugegeben sehr feste, Umarmung zog. Und dann sollte mir mal einer erzählen, sie hätte keine Kraft in den Armen. Dieses Mädchen könnte einen Muskelprotz zerquetschen. Und das ganz ohne sich auch nur ein wenig anzustrengen.

Sie sagte nichts. Sie umarmte mich bloß und achtete nicht auf die Schüler, die sich mit verzogenen Gesichtern und augenrollend an uns vorbei schoben, um auch in die Aula hinaus treten zu können und ihre Sachen zu einem anderen Saal zu bringen.

Es war das erste Mal, dass wir uns sahen. Richtig sahen - nach Zayns Unfall. Videochat und Telefonieren zählte nicht. Und was soll ich sagen? Es tat verdammt gut, wenn man wusste, dass man jemanden hatte, dem man einen Teil der Last abgeben konnte.
Lydia war selbst völlig fertig gewesen, als sie das mit Zayn erfahren hatte. Am Telefon hatte ich sie weinen hören, obwohl sie versucht hatte, es zu verstecken. Sie kannte ihn schon ewig und selbst wenn sie nicht Hals über Kopf in ihn verknallt gewesen wäre - ihre Reaktion wäre wohl dieselbe. So lange, wie sie mich kannte, kannte sie auch Zayn.

"Und? Bleibt es bei der Gruppenarbeit mit Du-weißt-schon-wem?"

Ich lachte leise. Sie tat ja so, als wäre Aidan Negro, ein attraktiver Siebzehnjähriger, der gefürchtete dunkle Zauberer Lord Voldemort - ohne Haare oder gar Nase -, dessen Name aus Angst und Respekt nicht ausgesprochen wurde. Fast so, als hätte sie Angst, etwas Schlimmes würde passieren, wenn sie es doch täte.
Aber vielleicht war er tatsächlich auf irgendeine Weise Tom Riddle, dessen Unfreundlichkeit doch wirklich große Ähnlichkeit mit der von Aidan hatte.
Wie auch immer. Jetzt hatten wir wohl einen neuen Codenamen für Aidan-arroganter-Kotzbrocken-Negro.
Lord Voldemort.
Und niemand würde im Leben darauf kommen, über wen wir sprachen. Perfekt. Und ziemlich amüsant, den Dunkelhaarigen mit dem bleichen Schlangenmann mit den roten Augen zu vergleichen. Aber hey, auch Voldemort war einmal ein attraktiver Jugendlicher gewesen. Irgendwann. Vor... vielen Jahren.

"Ja, es bleibt bei der Gruppenarbeit mit ihm.", erwiderte ich und blickte mich verstohlen zur Seite um, wo Negro seinen Rucksack vor einem Saal abstellte und dann - die Hände in den Hosentaschen vergraben und Kapuze, sowie eine Mütze auf dem Kopf - in Richtung Schulhof schlenderte, wie nur jemand schlendern konnte, ohne dass es komplett bescheuert aussah.
Auch ich hatte seinen Namen nicht gesagt. Auch ich hatte es nicht gewagt, zu sagen: "Ja, es bleibt bei der Gruppenarbeit mit Aidan."
Wieso? Keine Ahnung. Ehrlich. Keine Ahnung.

"Mein Beileid", flüsterte sie und lächelte mitleidig. Dann zwinkerte sie, als sie sah, in wessen Richtung ich da sah.

Ich zog eine Grimasse. "Vielen Dank für Euer Mitgefühl, ehrenwerte Lydia Reyes." Ich deutete eine lächerlich tiefe Verbeugung an und versuchte dann mit einem Lächeln, meine Würde wiederzuerlangen.

Sie aber reagierte nicht auf mein - zugeben natürlich sehr professionelles - Schauspiel und zog mich stattdessen mit zum Musiksaal, wo sie ihre Sachen abstellte und dann stöhnte. "Ich habe sowas von gar keine Lust auf Musik."

"Wer wählt denn auch Kunst und Musik?"

"Ich."

"Das sehe ich."

Sie hatte doch tatsächlich noch Musik gewählt, um die Anzahl der vorgegebenen Stunden in der Woche zu erreichen. Statt Französisch zu machen - wie ich - hatte sie sich für Musik entschieden. Zusätzlich zu Kunst.
Vielleicht war es, weil ich Musik als Fach in der Schule verabscheute... Aber ehrlich? Ich machte sogar lieber Mathe mit meinen alten Freunden Sinus und Kosinus. Und dem anderen Mist.

Zerschmettert Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt