Kapitel 42

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Draußen war es schon fast dunkel und ich konnte weder sein Auto, noch sein Motorrad in der Nähe ausmachen. War er etwa gelaufen?

"Was ist passiert?"

Er antwortete nicht. Stattdessen sah er mich einfach nur an, dann kippte er leicht nach vorne und wäre zusammengebrochen, wenn ich in diesem Moment nicht die Arme um ihn geschlungen hätte.

"Aidan!", rief ich überrascht. "Komm schon, versuch aufzustehen. Ich kann dich nicht tragen."

Mein Herz pochte gegen meinen Brustkorb und eine Welle voll Sorge brach über mir zusammen, was mir zeigte, dass ich definitiv noch nicht mit ihm abgeschlossen hatte.
Tatsächlich musste ich ihn nur ein wenig stützen, als ich ihn ins Wohnzimmer führte und auf die Couch hievte. Und er hatte immer noch kein Wort über die Lippen gebracht. Außer meinen Namen.
Sein Gesicht war völlig blass, die Nase und die Wangen leicht rosa von der Kälte. Er hatte die Augen auf mich gerichtet - in ihnen schimmerten immer noch Tränen - und seine Wimpern waren nass. Also waren bloß ein paar Minuten vergangen, seit er geweint hatte. Weshalb auch immer.

Schmeiß ihn raus, schrien meine Gedanken, als ich den Drang unterdrückte, ihn in meine Arme zu nehmen, seinen Körper an mich zu drücken.

"Elina...", flüsterte er und ich warf all meine Prinzipien über Bord - und strich ihm durch das dunkle Haar, das in alle Richtungen abstand.

"Was tust du hier?"

Meine Stimme war kaum ein Flüstern, aber er musste mich trotzdem verstanden haben, denn er schloss die Augen und sah aus, als würde er überlegen.

"Ich kann nicht mehr", war alles, was er sagte - und als er den Mund öffnete, konnte ich die Alkoholfahne riechen.

"Hast du etwa getrunken?", stellte ich eine völlig überflüssige Frage.

Er hatte getrunken. Scheinbar ziemlich viel, wenn er einfach so hier auftauchte. Bei mir. Seiner Exfreundin. Und sich hinzu noch die Blöße gab, dass ich ihn so sah.
Schwach, wie er selbst es definieren würde.

Plötzlich begann er zu grinsen. "Nur ein bisschen", lallte er und es sah so aus, als könnte er seine Augen kaum offen halten.

"Du trinkst doch normalerweise nicht..."

Ich kniete neben der Couch und strich ihm immer noch durch sein Haar, wie ich erschrocken feststellen musste.
Er zog die Augenbrauen hoch und grinste wieder bis über beide Ohren. Dann führte er einen Finger an die Lippen.

"Pshht, das ist ein Geheimnis...", flüsterte er und sein Gesichtsausdruck war dabei so ernst, dass ich gelacht hätte, wenn die Situation eine andere gewesen wäre.

Wenn er nicht mit verweinten Augen vor meiner Tür gestanden hätte.
Wenn er nicht mit mir Schluss gemacht hätte.
Wenn er nicht gerade jetzt in diesem Moment auf meiner Couch liegen würde.
Wenn er noch mein Aidan gewesen wäre.
Ich verdrehte die Augen und stand auf, breitete eine Decke über ihm aus, nachdem ich ihm seine Schuhe von den Füßen gezogen hatte und wollte gerade gehen, als er mich am Handgelenk packte.

"Wo gehst du hin?" Jetzt klang seine Stimme wieder traurig, was mich erschütterte. Was in Gottes Namen war bloß geschehen?

Ich schüttelte seine Hand ab. "Ich hole dir nur Wasser. Dann geht's dir besser."

Er sollte wenigstens ein wenig nüchterner werden. Das war nämlich echt nicht zum Aushalten. Aidan hatte gerade richtige Stimmungsschwankungen - wie ein Mädchen während ihrer Periode, wie die Jungs das so schön ausdrücken würden.

Er machte einen Schmollmund. "Kommst du dann wieder zurück?"

"Ja. Ich bin im Handumdrehen wieder da, Aidan."

O Himmel, dachte ich, als ich mich beeilte, in die Küche zu kommen, er benimmt sich wie ein kleines Kind...

Dort holte ich ein Glas und füllte es bis zum Rand mit Wasser, ehe ich wieder zurück ins Wohnzimmer ging. Er lag so dort, wie ich ihn verlassen hatte; eingewickelt in die graue Decke, eine Hand unter dem Kissen und in die Leere starrend.

"Setz dich", kommandierte ich und ließ mich neben ihm nieder. "Und trink."

Ein selbstgefälliges Grinsen umspielte seine Lippen. "Ich mag es, wenn du so herrisch bist, Baby."

Und... Mir blieb erst einmal die Spucke weg.

Baby.

Hatte er das gerade wirklich gesagt? Am liebsten hätte ich ihn und mich für die Röte geschlagen, die sich in der Zwischenzeit - während er das Wasser brav trank - kaum merklich auf mein Gesicht geschlichen hatte.

"Danke schön!", rief er aus und schlang die Arme um mich, nachdem er das Glas auf dem Kaffeetisch angestellt hatte.

Aidan atmete in meinen Nacken, was eine Gänsehaut überall auf meinem Körper verursachte. Abwechselnd liefen mir kalte und warme Schauer über den Rücken. Völlig perplex blieb ich wie versteinert sitzen, bis er mich wieder losließ und sich hinlegte, als sei es selbstverständlich, dass hier war. Als sei es selbstverständlich, dass er immer herkommen konnte, wann er wollte.

"Was machst du hier?", fragte ich, nachdem ich meine Stimme wiedergefunden hatte.

Mein Körper erinnerte sich immer noch an die eben noch geteilte Wärme seines Körpers, als er mich umarmt hatte.
Es war das, was ich die ganze Zeit vermisst hatte. Sollte ich jetzt nicht glücklich sein, dass es wieder da war? Nein. Denn es war nicht wieder da. Das alles - es würde in kurzer Zeit wieder verschwinden. Und ich würde wieder nichts haben. Nichts, woran ich mich festhalten kann.

"Ich wollte dich sehen.", erwiderte er mit geschlossenen Augen.

Ich lachte auf. "Du wolltest mich also sehen? Und was sagst du dazu, dass ich dich nicht sehen will?"

Aidan sagte nichts. Doch dann packte er unerwartet meinen Arm und zog mich mit einem Ruck über sich. Erschrocken riss ich die Augen auf und wollte wieder von ihm aufstehen, doch er hielt mich an der Taille fest an sich gedrückt.

"Lass. Mich. Los."

Er tat es nicht.
Natürlich nicht.
Stattdessen legte sich ein Lächeln auf seine Lippen - und er strich mir mit seiner freien Hand das Haar aus dem Gesicht, was mein Herz einen Salto schlagen ließ. Es war fast wie damals. Als alles noch perfekt gewesen war. Und gerade das machte mich schwach.

"Aidan..."

"Du bist wunderschön."

Ich schloss die Augen und schaffte es endlich, mich von ihm zu befreien. Sofort ging ich mehrere Schritte rückwärts.

"Sag so etwas nicht, okay?", flüsterte ich. "Hör auf, mir solche Dinge zu sagen. Hör auf zu lügen."

"Elina."

Mein Herz brach noch einmal - wenn das denn möglich war -, als er meinen Namen aussprach. Es lag Schmerz in seiner Stimme. So viel Schmerz.

Es kostete mich sehr viel Überwindung, meine Stimme kalt und abweisend klingen zu lassen, emotionslos. "Was willst du denn jetzt hier? Wieso bist du zu mir gekommen?"

In seinen Augen glitzerten Tränen. "Weil Mum nicht mehr da ist."

Mit wenigen Schritten war ich wieder bei ihm und drückte ihn an mich.
In diesem Moment war es mir egal, was ich mir vorgenommen hatte.
Es war mir egal, was er mir angetan hatte.
Es war mir egal, dass ich sauer auf ihn gewesen war.
Das alles spielte keine Rolle, als ich ihm eine Träne aus dem Gesicht wischte und ihn einfach nur festhielt.

Zerschmettert Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt