Kapitel 27

463 20 22
                                    

Ein Kuss.
Es war dieser eine Kuss, der alles veränderte.
Alles, was vorher zwischen uns gewesen war, alles, was vielleicht hätte kommen können, wenn dieser Kuss nicht gewesen wäre.

Irgendwie völlig außer Atem - weil ich nicht geatmet hatte - sah ich ihn mit knallroten Wangen und einem sehr laut klopfenden Herzen an. Mir war so warm, dass man glauben könnte, es wäre urplötzlich eine Hitzewelle über die Welt hergefallen, die auch mich nicht verschonte. Oder eine Sonneneruption hatte die Erdoberfläche verbrannt. Ähnlich wie bei 'Maze Runner' - nur nicht ganz so schlimm.
Dabei konnten Wärme und Kälte sich aber nicht einigen, wer von ihnen mich wählen sollte. Deswegen liefen mir abwechselnd kalte und warme Schauer über den Rücken - und bildeten eine Gänsehaut überall auf meinem Körper.

Wir saßen immer noch ganz dicht beieinander, ich hatte ihn mittlerweile losgelassen, doch seine Hand lag immer noch an meiner Wange, bis er sie langsam entfernte.

"Wieso sagst du nichts?", fragte er schließlich ein wenig heiser.

Leichte Panik brach in mir aus. Was sollte ich sagen? Was erwartete er von mir?
Ich befeuchtete meine Lippen, darauf gefasst, den ganzen Moment zu zerstören. Aber hatte nicht er ihn zerstört?

'Wieso sagst du nichts?'

Merkwürdig. Wieso sagte ich wohl nichts? Ich hatte doch selbst keine Ahnung, wie zur Hölle ich auf diesen verdammten Kuss reagieren sollte, der auch noch mein erster war! Was wollte er hören? Welch ein toller Küsser es war? Das... würde ich jedenfalls unter keinen Umständen sagen. Selbst wenn es die Wahrheit war.
Dieser Kuss war magisch gewesen. Unglaublich. Besonders. Wundervoll.

"Du sagst doch auch nichts", gab ich also zurück ohne Aidan anzuschauen.

Er hatte mich doch geküsst! Nicht ich ihn. Wieso sollte ich etwas dazu sagen? Sollte ich mich dafür rechtfertigen, dass ich ihn nicht weggeschubst hatte? Konnte er knicken. Jeden einzelnen der Punkte, die ich aufgezählt hatte, konnte er sowas von vergessen.

Als ich aber doch aufblickte, lächelte er.
"Das war ein schöner Kuss."

"Es war mein erster."

Er zog die Augenbrauen hoch. "Dein erster?"

"Ja, mein erster." Als er mich daraufhin nur ansah, rollte ich mit den Augen. "Was ist daran nicht zu verstehen? Ich habe nicht wie du schon Hunderte im Bett gehabt.", fauchte ich.

"Hey, Distel"

"Nenn mich nicht so."

"Beruhige dich."

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. "Und weiter?"

Aidan verdrehte lächelnd die Augen. "Ich wollte damit nur sagen, dass der Kuss... Es war der beste Kuss, den ich je gehabt habe. Wenn man den Fakt ignoriert, dass es mein erster war."

"Sagst du das auch den anderen zehn Mädchen, die morgens neben dir aufwachen?"

Wahrscheinlich war das gemein. Nein. Das war ganz bestimmt gemein und völlig unnötig. Aber ich hatte den Drang, mich zu verteidigen.

"Und wenn du diejenige bist, neben der ich aufwachen will?"

Und da war es wieder. Er hatte es erneut geschafft, mich mit offenem Mund komplett fassungslos mit den Gedanken an seine Worte zurückzulassen.

"Und wenn du es genau wissen willst: Nein. Das sage ich nicht jeder. Ich weiß nicht, was du von mir denkst, Elina, aber das war auch für mich der erste richtige Kuss."

Okay. Jetzt war ich wirklich fassungslos. Nein. Er wollte mich sicher auf den Arm nehmen. Aidan Negro und erster Kuss?
Aidan hatte noch nicht seinen ersten Kuss gehabt? Bei diesem Aussehen? Bei diesem Ansehen, dieser Beliebtheit? Aus der Oberstufe kannte ihn so gut wie jeder.

Wer's glaubt, dachte ich.

Das klang noch unrealistischer als das Märchen, in dem ein Frosch sich nach dem Kuss einer Prinzessin in einen bildhübschen Prinzen verwandelte. 'Der Froschkönig'.

"Ja natürlich. Und ich bin Königin Elina Parker von Narnia."

Aidan lachte. "Manchmal würde ich dich wegen deinem dicken Kopf gerne durchschütteln, Eli."

"Glaub mir, den Drang hatte ich bei dir schon viel öfter."

Er fuhr sich mit einer Bewegung durch sein dunkles Haar. "Das bezweifle ich."

"Ach und was lässt es dich bezweifeln?"

Er zuckte mit den Schultern. "Du hast wahrscheinlich eher den Drang, Tag und Nacht neben mir zu verbringen."

Aidan zwinkerte - und ich hätte ihm dieses Zwinkern und Grinsen gerne mit der Faust aus dem Gesicht gewischt.

"Wieso heute so bescheiden, Negro?"

"Sind wir jetzt wieder beim Nachnamen angekommen?"

Nein. Oder doch. Vielleicht. Aber nur weil ich versuchte, meine Nervosität und das Herzklopfen irgendwie zu verleugnen. Was natürlich nicht sonderlich toll funktionierte.

Und schließlich entschied ich mich für die keinen Deut aussagekräftigen Worte: "Sag du es mir."

"Das beantwortet zwar die Frage nicht... Aber ich will, dass du mich bei meinem Vornamen nennst."

Darauf erwiderte ich nichts. Ich schloss die Augen und atmete einmal tief durch. "Ich fand es auch wunderschön", gab ich schließlich leise zu.

Meine Wangen wurden augenblicklich so heiß, dass man Pfannkuchen darauf hätte backen können.
Und jetzt grinste er wieder bis über beide Ohren. Wahrlich. Das tat seinem Selbstbewusstsein - von dem zehn Tonnen zu viel vorhanden war - nicht gut.

"Sag ich ja", kommentierte er.

Ich rollte mit den Augen - das Herz immer noch laut klopfend bei der Erinnerung an den Kuss, an seine Lippen auf meinen, an das leichte Kribbeln.

"Jetzt glaub bloß nicht, du hättest mich damit um den Finger gewickelt..."

"Hab ich nicht?"

"Nein."

"Dann", er lehnte sich wieder zu mir vor, "macht es dir ja nichts aus, wenn ich es nochmal versuche, oder?"

"Was meinst du-"

Er unterbrach mich, indem er seine Lippen erneut auf meine legte.
Wenn der erste Kuss wundervoll und sanft gewesen war, dann war dieser noch so viel besser. Leidenschaftlicher irgendwie. Oder wie auch immer das zu beschreiben war. Mein Herz rebellierte erneut gegen meinen Körper und schlug unmenschlich schnell. Und selbst ich fackelte nicht lange und schlang die Arme um seinen Hals, als er eine Hand in meinen Nacken legte und die andere an meiner Hüfte platzierte. Ich drängte mich näher an ihn, wollte seine Nähe noch intensiver spüren. Mein Gehirn, mein gesunder Menschenverstand und meine vernünftige Seite waren abgeschaltet. Auf Stand-by. Als hätte ich den Flug- und Energiesparmodus aktiviert.
Mit einem Grinsen löste er sich wieder von mir und legte seine Stirn an meine.

"Hast du jetzt etwas dazu zu sagen?"

Ich musste lächeln. "Vielleicht."

"Schieß los."

"Ohne Worte", erwiderte ich, zog ihn wieder zu mir herunter und drückte meine Lippen auf seine, was er mit einem überraschten Einatmen quittierte.

Zerschmettert Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt