20 | E M M A

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Mit meinen gesamten einundsiebzig Komma sechs Kilogramm liege ich auf diesem blöden Koffer. Auch diesmal konnte ich mich nicht entscheiden, was ich für den Kurz-Trip mit John einpacken soll. Dass er tatsächlich Zeit mit mir verbringen möchte, kann ich immer noch nicht so ganz fassen. Keine Berge von Akten oder sonst irgendwelche langweiligen Dinge.

Nur wir beide.

Obwohl ich mir nach wie vor nicht erklären kann, woher der plötzliche Sinneswandel kommt. Immerhin hat John in der letzten Zeit nur für eins gelebt. Außerdem werde ich L.A. vermissen.

L.A. oder doch jemand ganz bestimmten?

Ich seufze. Jetzt redet meine beste Freundin schon wieder auf mich ein. Genau das hat sie gestern gefragt, als ich ihr davon erzählt habe. Sie ist nach wie vor der Meinung, dass ich mich für Tom entscheiden soll. Als wenn das jemals zur Diskussion gestanden hätte. Aber so ist Lucy halt. Sie macht sich nie Gedanken über die Konsequenzen. Mittlerweile habe ich es fast aufgegeben ihr zu sagen, dass das mit Tom und mir rein platonischer Natur ist. Selbst wenn es John nicht gäbe, käme mehr für mich nicht infrage. Denn seien wir mal ehrlich, ich weiß nichts über diesen Mann. Außer, dass er gerne ›mit dem Feuer spielt‹ und Musik offenbar verabscheut.

Natürlich konnte Lucy es nicht lassen mir unter die Nase zu reiben, dass er genauso wenig über mich weiß. Was so nicht stimmt. Immerhin kennt er meine Adresse. Umgekehrt ist das nicht der Fall.

Erneut entfährt mir ein Seufzen. Der Koffer ist zur Nebensache geworden. Wie ein Planet um die Sonne kreisen meine Gedanken um Tom. Wobei das bei der Wärme, die er ausstrahlt, gar nicht mal so ein blöder Vergleich ist.

Also, was weiß ich noch? Er mag keine Autos. Beziehungsweise scheint er nicht viel Wert darauf zu legen. Und das, obwohl er sich gut mit ihnen auskennt. Soweit ich das beurteilen kann natürlich. Und ... ach ja, fast vergessen. Er trinkt auch keinen Alkohol. Welcher normale Mann mag bitte weder Alkohol noch Autos? Nicht, dass ich auf saufende Proleten, die ihren Sportwagen als künstliche Verlängerung ihres Geschlechtsteils missbrauchen, stehen würde, aber ungewöhnlich ist es schon.

Außerdem hat er ein Tattoo, das er aber keinem zeigen will. Mir jedenfalls nicht. Am meisten beunruhigt mich allerdings die Tatsache, dass er offenbar oft sein Leben für andere riskiert. Natürlich gehört es zu diesem Job dazu, an seine Grenzen zu gehen, aber Tom macht den Eindruck, als würde er mit voller Absicht ständig weit darüber hinausgehen. Überhaupt kommt es mir vor, als wären ihm sein Leben und seine Gesundheit nicht besonders wichtig. So etwas wie Schlaf kennt er scheinbar auch nicht. Das sagen mir jedenfalls die Schatten unter seinen Augen. Nichtsdestotrotz ist Tom ein attraktiver Mann.

Moment mal ... Habe ich das gerade wirklich gedacht?

Hast du, bestätigt mir mein ... was auch immer. Okay. Wo war ich? Augenschatten. Die sind nämlich das Einzige an ihm, was nicht perfekt ist. Obwohl das seiner Schönheit keinen Abbruch tut.

Jetzt ist aber auch mal gut!

Wie eine Mutter ihr Kind tadele ich mich in Gedanken, ehe ich mich wieder meinem Koffer widme. »Nun mach schon!«, fluche ich, aber es ist hoffnungslos.

Reden wir noch von dem Koffer oder doch von etwas anderem?

Ich stoße einen unterdrückten Schrei aus, der einer Mischung aus Pferd, Hyäne und Raubkatze gleicht, und lasse mich bäuchlings aufs Bett fallen. Um die Stimme nicht mehr hören zu müssen, presse ich mir eines der Kissen gegen die Ohren. Ich sollte sie wirklich Lucy nennen. Schließlich klingt sie genauso. Ganz toll! Jetzt gebe ich den Stimmen in meinem Kopf schon Namen.

Nachdem der Anfall vorbei ist, stehe ich auf und ziehe ein paar Strickjacken wieder aus dem Koffer. Seit ich denken kann, ist mir einfach immer kalt. Sogar hier in Kalifornien friere ich ständig. Dabei soll Fett doch bekanntlich warm halten. Bereits in frühster Jugend hatte ich Gewichtsprobleme. Eine Diät nach der anderen habe ich ausprobiert. Von Kohlsuppe über irgendwelche Shakes, die ja angeblich so satt machen sollen, bis hin zu diversen Tabletten, die jedoch nichts anderes getan haben, als meinem Stoffwechsel endgültig den Rest zu geben. Inzwischen habe ich mich damit abgefunden, dass ich keine Modelmaße habe. Oder sagen wir – ich versuche es.

Where Doubts should be silentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt