Kapitel 5

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Aris
Ich bog um die Ecke des Schulflurs und da stand sie.

Irgendwie belustigte mich ihr Anblick.

Etwas verträumt blickte sie in das Gebäude hinein und der Windstoß der sich schließenden Tür hinter ihr wirbelte ihre blonden Haare auf.

"Was machst du denn hier?", fragte ich, bevor ich mich stoppen konnte.

Sie zuckte zusammen und drehte sich hektisch um.

Ihr Blick zog auf Wanderschaft, dann lenkte sie ihren Blick auf mein Gesicht.

"Ich...äh...Sekretariat?"

Ich schmunzelte. "Sekretariat also, ja?"

Ich war mir im Klaren, dass ich wieder einmal das Therapeuten-Ding tat, aber mal ehrlich: Ich hatte seit langem kein so spannend zu lesendes Gesicht gesehen.

Das war weird. I know.

Ich liebte es, aus kleinen Merkmalen Persönlichkeiten zusammenzusetzen, deren Vergangenheit kennenzulernen und ihnen zu helfen.

Und dieses Mädchen war einfach krass.

Ihre Mimik spiegelte verschiedene Gefühle in so einer Geschwindigkeit wieder, dass ich ihnen nicht mal folgen konnte.

Verwirrung, Erkennen, eine Röte auf ihren Wangen, nochmal Verwirrung, Scham, und schließlich schüttelte sie einfach den Kopf.

"Ja, Sekretariat. Könntest du mir vielleicht zeigen wo es ist?", wollte sie wissen.

"Klar", sagte ich nur und ging los, ohne auf sie zu warten.

Die Highschool war im Gegensatz zu anderen eigentlich ziemlich gepflegt, was auch an den beiden Hausmeistern lag, die die Schule seit gut zwanzig Jahren liebevoll pflegten.

Trotz allem war sie bei weitem nicht mein Lieblingsort, aber mal ehrlich, wer war so verrückt und erklärte die Schule zu seinem Lieblingsort?

Das Mädchen lief still hinter mir her und als ich einen kurzen Blick über die Schulter warf, stellte ich fest, dass ihr Gesicht wieder den Ausdruck angenommen hatte, den es auch vor ein paar Tagen im Park hatte.

Irgendwie ausdruckslos wie eine Maske aus hartem, kaltem Stein.

Nur ihre Augen zeigten Gefühle, aber keine positiven, hellen, freundlichen Gefühle, nein eher dunkle, tiefe, traurige Gefühle.

Innerlich schimpfte ich mich selber aus, sie endlich in Ruhe zu lassen und mich auf meine eigenen Probleme zu konzentrieren, aber das war um Einiges leichter gesagt als getan, vor allem wenn man ich war.

Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche und riss mich aus meinen Gedanken.

Ich zog es hervor, erblickte das Display und den Namen meiner Mutter und mein Herzschlag beschleunigte sich augenblicklich.

Mom rief mich nur in Notfällen an, wenn ich in der Schule war.

Ich seufzte ergeben, fuhr mir durch die Haare und schaute dann zu dem Mädchen, das mich stirnrunzelnd betrachtete.

"Ich muss los. Du musst den Gang lang", ich deutete den Flur hinab, "und dann rechts, da ist eine Glastür mit der Aufschrift Sekretariat. Sollte also nicht zu übersehen sein", meinte ich und grinste.

Missbilligend sah sie mich an.

"Schon klar"

"Gut", sagte ich zufrieden und war grade dabei umzudrehen, als ihre ruhige Stimme mich aufhielt.

"Wie heißt du?"

Ihre Stimme war irgendwie rau, als hätte sie schon länger nicht mehr richtig gesprochen.

"Aris. Und du?", antwortete ich.

Sie presste die Lippen aufeinander.

"Ich dachte, du musst los", erinnerte sie mich mit ausdrucksloser Stimme, machte kehrt und lief den Schulflur hinab, den Weg entlang, den ich ihr kurz zuvor beschrieben hatte.

Einen Moment lang blickte ich ihr hinterher, dann zog ich mein Handy aus der Tasche und machte mich auf das Schlimmste gefasst.

Still Waters Run DeepWo Geschichten leben. Entdecke jetzt