Kapitel 1

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Sam

"Samantha?", Mom winkte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum.

Wie lange hatte ich das Haus angestarrt? Fünf Minuten? Länger? Ich weiß es nicht.

Es fühlte sich nicht so an, wie Mom und Dad es behauptet hatten. Es fühlte sich nicht nach einem Neuanfang oder einer neuen Chance an. Wie auch?

Es war riesig, weiß und sah aus, als wäre es direkt aus einem Katalog ausgeschnitten und hierhergestellt.

Ich weiß nicht genau, wieso ich es sofort hasste.

Vielleicht wegen des großen Vorgartens, in dem sie mit Charlie gespielt hätte.

Vielleicht wegen der großen Fenster, vor denen sie gesessen und neue Melodien geschrieben hätte.

Vielleicht wegen des Daches, auf das sie geklettert wäre, um die Sterne zu beobachten.

Vielleicht aber auch einfach, weil ich im Moment mein ganzes Leben hasste.

Mom winkte wieder, ihr Autoschlüssel klimperte und reflektierte das Licht der Sonne, die heiß auf meinen Rücken brannte.

"Komm jetzt. Du kannst es nicht ewig anstarren, als würde es gleich zum Leben erwachen."

Und ob ich das konnte! Aber das sagte ich nicht. Nein, ich drehte mich brav um und nahm einen der Umzugskartons, um mich dann stillschweigend auf den Weg ins Innere des Hauses zu machen.

Mom eilte herbei, schob sich kurzerhand vor mich und drehte dann den Schlüssel im Schloss. Die Tür schwang auf, und ich seufzte innerlich. Das Haus sah von innen genauso schrecklich aus wie von außen.

Wie sooft in den letzten Monaten zweifelte ich die Entscheidung meiner Eltern, hierher zu ziehen, an.

Vielleicht hilft es ja wirklich, wisperte die Optimistin in mir. Meine Pessimistin lachte auf. Als ob, schnaubte sie.

Ich brachte die Stimmen zum Schweigen und ließ den Karton lautstark auf den Boden fallen. Wenn nicht Worte, dann Gesten, denn reden wollte ich nicht.

Wieso?

Keine Ahnung. Protest, vielleicht.

Das Haus roch wie ein Krankenhaus, nach Zitrone und Desinfektionsmittel. Es war leer, die Schritte hallten darin.

"Ist es nicht toll? Ein Neuanfang, Samantha. Sieh doch nicht immer nur das Negative!", rief Mom und drehte sich mit ausgestreckten Armen im Kreis, wie eine Prinzessin, die ihr neues Schloss begutachtete.

Nur war sie keine Prinzessin.

Denn wären wir hier in einem Märchen, wäre meine Schwester nicht tot, und mein Leben kein trostloses Etwas, dass ich eigentlich nicht gebrauchen konnte.

Ohne auf sie zu reagieren verließ ich das Haus wieder und lief zu meinem Vater, der noch am Auto stand und fleißig Kartons aufeinanderstapelte.

Als ich die Autotür öffnete, sprang mir ein kleines, wuselndes Geschöpf ins Gesicht, sodass ich zurück stolperte und mich mehr oder weniger ungewollt auf dem Boden niederließ. Das Geschöpf streckte seine Zunge raus und leckte mir schlabbernd übers ganze Gesicht.

Ich lachte nicht, aber ich schmunzelte zumindest. Charlie war die Einzige, die mir hin und wieder ein Lächeln entlocken konnte.

Ihre warme Zunge fand mein Ohr, und da entwischte mir dann doch ein Laut, eine Mischung aus Aufschreien und Lachen.

Schließlich hob ich den kleinen Yorkshire Terrier von mir herunter, denn der Boden war kein sonderlich bequemer Ort zum Sitzen.
Charlie ließ von mir ab und begann mit aufgeregt wedelndem Schwanz den Boden und das trockene Gras am Straßenrand zu beschnuppern.

Dad sah mich an, doch sein Blick war abwesend, versunken in Gedanken und Erinnerungen.

Ich kannte diesen Blick. Zu oft lag er in letzter Zeit auf meinem eigenen Gesicht.

Ich wandte den Kopf wieder zu Charlie, die wohl irgendetwas im Gras gefunden hatte, und jetzt bellend darin herumsprang.

Mom kam aus dem Haus, ein falsches Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie bemerkte Dads Gesichtsausdruck, ihr Lächeln verrutschte leicht, doch sie ignorierte es. "So, wollen wir uns nicht alle zusammen die Stadt angucken?", erkundigte sie sich mit unnatürlich hoher Stimme.

Ich ignorierte sie erneut, schnappte mir meine Kamera und die Hundeleine vom Rücksitz und steckte mir mein Handy in die Hosentasche.

"Ich gehe lieber allein", murmelte ich und lief los, ohne auf eine Reaktion meiner Eltern zu warten. Als ich beinahe an der Straßenecke angekommen war, pfiff ich einmal laut und wartete dann darauf, dass Charlie mich einholte.

Genau das geschah einige Sekunden später und ich setzte mich wieder in Bewegung, Hauptsache weg von meiner zertrümmerten Familie und der bedrückenden Stimmung, die dort herrschte.

~

Die Stadt war winzig. Sie hatte nicht viel, einen Supermarkt, einen Coffeshop, ein kleines Café, eine minimale Shopping Mall und ein Kino.

Während ich durch die Straßen wanderte und stets darauf achtete, möglichst wenigen Personen zu begegnen fiel mir eine Sache besonders auf: Die Stadt war in sehr charakteristische Viertel geteilt.

Es gab ein Viertel, in dem lauter große Häuser standen mit entsprechend großen Gärten. Meist stand vor diesen Häusern mindestens ein teures Auto, weshalb ich davon ausging, dass hier eher reiche Leute lebten.

Es gab ein Viertel, in dem viele mittelgroße Häuser standen, manche auch eher klein, doch das Viertel hatte eine gemütliche Aura, die mir eine Art Zuhause-Gefühl bereitete. Überall waren Pflanzen, viele Häuser waren in einem altmodischen Stil gehalten und doch wirkte es schlicht und ungekünstelt. Ich erklärte dieses Viertel sofort zu meinem Lieblingsviertel, vor allem als eine kleine graue Katze aus einem Garten getapst kam, und sich dann schnurrend an meinem Bein rieb, bevor sie aus der Sonne wieder in den Schatten flüchtete.

Es gab eine Art Industrieviertel, dort waren Läden und eine große Lagerhalle. Es war grau und grau und nochmal grau und einfach eine hässliche Seite der Stadt. Ich mochte es trotzdem irgendwie. Naja, mochte war vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Eher verspürte ich eine gewisse Anziehung dieses Viertels, weil es meinem Leben so verdammt ähnlich war.

Außerdem gab es ein Viertel, das sehr heruntergekommen war. Ich war kein Fan von Vorurteilen, also würde ich auch nicht davon ausgehen, dass hier nur Drogenabhängige und Arme lebten, aber es wirkte einfach nicht so nobel und snobhaft wie das Viertel mit den großen Häusern. Allerdings war es dort keineswegs trostlos: bunte Klamotten hingen an Schnüren von Fenster zu Fenster, Kinder spielten Fußball, ein kleiner Junge sprang Seil - wobei mir schon beim Zusehen der Schweiß ausbrach - und eine Ansammlung von älteren Leuten saß im Schatten und redeten angeregt miteinander.

Als Letztes kam ich zu einem Viertel, für das ich keinen Namen hatte. Hier war die High School, ein Kindergarten, ein riesiger Sportplatz, eine Primary School, ein Computercenter, ein Tierheim und ein Secondhandladen.

Was mich allerdings am meisten anzog, war der Park, der trotz der grellen Septembersonne in Schatten getaucht war. Halblanges Gras, Bäume mit tiefhängenden Ästen, einzelne Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach fielen.

Es war wunderschön. Der Park war beinahe verlassen, bis auf einen Jungen, etwa in meinem Alter, der mit drei Hunden spielte.

Es waren ein Labrador, ein Golden Retriever und ein junger Akita. Irgendwie hatte die mir dargebotene Szene etwas friedliches.

Wie automatisch hob ich meine Kamera an mein Gesicht und drückte gleich mehrmals ab. Ein Kribbeln durchflutete mich; das Gefühl, dass es ein gutes Bild geworden war.

Dann lief Charlie auf die anderen Hunde zu, bellte und wedelte mit dem Schwanz, und der Junge drehte sich überrascht um.

Still Waters Run DeepWo Geschichten leben. Entdecke jetzt