Kapitel 9

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Aris

"...und Lola hat gesagt, ich darf Jacky bald sogar reiten!"

Ein freudiges Funkeln lag in den braunen Augen meiner Schwester, als sie mir mit roten Wangen erzählte, was sie heute erlebt hatte.

"Aris hörst du mir überhaupt zu?", fragte sie dann, winkte vor meinem Gesicht herum und zog ihre Augenbrauen verärgert zusammen.

Schnell riss ich meinen Blick von meiner Mutter, die gedankenverloren in der Küche werkelte und richtete ihn wieder auf Ally.

"Tut mir leid. Wenn du willst kann ich dich gleich nochmal mitnehmen."

Sofort verzogen sich die grauen Wolken der schlechten Stimmung über Ally's Kopf und sie klatschte aufgeregt in die Hände.

"Ja! Aber ich frage noch Mama", meinte sie, sprang vom Sofa und hechtete in die Küche.

Derweil rieb ich mir müde übers Gesicht.

Abgesehen davon, dass meine heutige To-Do-Liste noch immer nicht abgearbeitet war und ich schlecht geschlafen hatte, ließ mich der Gedanke an Sam einfach nicht los.

Irgendwas machte dieses Mädchen mürbe und ich bezweifelte immer mehr, dass sie jemandem zum Reden hatte.

Meinen Vorsatz, sie in Ruhe zu lassen hatte ich spätestens heute Mittag endgültig in den Wind geschossen.

Ich konnte doch nicht einfach dabei zusehen, wie ein Mädchen meines Alters an den Hürden des Lebens scheiterte. Ich würde ihr eine Leiter bauen und gleichzeitig mein Bedürfnis ihr zu helfen stillen.

Konnte ja nicht so schwer sein...

Oder?

~

"Hey Darling", schnurrte ich beglückt und strich Lancelot über den karamellfarbenen Hals.

Er schnaubte zufrieden aus, rieb mit seinen dunklen Nüstern über mein Shirt und hinterließ eine Sabberspur, wobei ich mir gedanklich auf die Schulter klopfte, doch noch das abgenutzte T-Shirt statt meines Lieblingsoberteils angezogen zu haben.

Nach der Kuscheleinheit mit meinem Pferd zog ich Lancelot das Halfter an und führte ihn aus seiner Box.

Auf meinem Weg zur Koppel begegnete ich meiner Schwester, die im Roundpen mit Jacky trainierte.

Im Moment übte sie das Auflegen einer Satteldecke.

Sie machte zwar Fortschritte, aber Jacky trug die Decke noch nicht länger als eine halbe Minute, was unter anderem die braunen Hufabdrücke auf dem froschgrünen Stück Stoff und Ally's vor Frustration rote Wangen bezeugten.

"Aris! Wie mache ich dass sie aufhört? Die macht das doch für extra!", rief meine Schwester wütend und blickte mich hilfesuchend an.

Ich trat auf das hölzerne Gatter zu, führte Lancelot hinter mir her und stützte mich mit den Unterarmen auf die oberste Holzlatten, ehe ich sie sanft fragte: "Was haben wir geübt? Und was ist die allerwichtigste Regel?"

"Nicht sauer werden. Das Pferd braucht Zeit", murmelte Ally kleinlaut, der erwachsenere Teil in ihr kam wieder zum Vorschein und sie atmete einmal tief durch, um die Wut zurückzudrängen.

"Also, an deiner Stelle würde ich für heute Schluss machen und lieber noch eine Runde spazieren gehen. Jacky findet das bestimmt auch toll und morgen könnt ihr es nochmal probieren", sprach ich dann meinen Rat aus und ließ das Mädchen mit einem neuen Funken der Hoffnung in den Augen zurück.

~

"Lauf", befahl ich streng und schnalzte mit der Zunge.

Lancelot machte einen kurzen Satz, stemmte die Hufe in den Boden und schüttelte widerstrebend den Kopf samt Mähne, die so peitschend in mein Gesicht schlug.

Ich drückte die Fersen in seine Seiten, wusste dass ihm das nicht gefiel und zog die Stricke des Knotenhalfters ein Stück weiter an, um ihn zum Laufen zu bringen, bevor ich ihm wieder mehr Leine gab, damit er bei der Bewegung seines Kopfes ausreichend Freiraum hatte.

Zögernd machte mein Pferd einen Schritt, noch einen, dann wurde er immer schneller, bis wir in zügigem Tempo über den Reitplatz trabten.

"Na geht doch", raunte ich und klopfte ihm lobend den Hals.

Lancelot schnaubte und zu meiner Überraschung hielt er die Geschwindigkeit tatsächlich, bis ich ihm erlaubte langsamer zu werden.

Heute war er zickig gewesen. Allerdings war ich die letzten drei Tage nicht hier gewesen, Lancelot äußerst schnell beleidigt und so eine Diva, dass er teilweise tagelang schmollte, wenn ich mal länger nicht da gewesen war.

Zu Ende hin entspannte er sich aber sichtlich und arbeitete nochmal so lobenswert mit, dass ich ihn beim Absatteln und Putzen besonders verwöhnte und ihm heimlich eine Karotte zusteckte.

Anschließend führte ich ihn zu unserem traditionellen Spazierritt von der Ranch, vorbei an Lola, die den Mist wegbrachte und mich winkend grüßte.

Wir passierten im gemütlichen Schritt das Eingangsgatter und das verrostete Welcome-Schild, das in der lauen Sommerbrise hin und her schwang.

Die Luft war angenehm warm, ich hörte Grillen zirpen und genoss Lancelot's weiches Fell unter mir.

Ich hatte schon ganz am Anfang eingeführt, dass ich nach jeder Trainingseinheit mit ihm spazieren ging, mal länger, mal kürzer.

Zu Beginn, als Lancelot noch als Larry auf die Ranch gekommen war, musste ich nebenher laufen, mittlerweile saß ich auf seinem Rücken, ohne Sattel oder sonstiges, abgesehen von dem lockeren Knotenhalfter samt Strick, denn wie man es drehte und wendete; wir waren in keinem Pferdefilm, mit Seelenverwandtschaften zwischen Mensch und Tier, und obwohl man mich als Pferdeflüsterer und unsere Beziehung als besonders bezeichnete, könnte Lancelot sich erschrecken und los galoppieren, und ohne Strick und Halfter säße ich dann ganz schnell auf dem staubigen Boden Floridas.

Vorsichtig lehnte ich mich nach vorne, legte mich auf seinen gemächlich wippenden Hals und vergrub mein Gesicht in seiner dunklen Mähne.

Lancelot war ein ausgesprochen schöner Wallach.

Sein Körper war karamellfarben, wie trockenes Getreide im Sonnenuntergang, während seine Mähne, Nüstern und Füße dunkelbraun waren, und seine Augen zartbitterschokoladenfarben.

Gestrüpp und trockenes Gras säumte den Feldweg, den ich entlangritt, einzeln ragten grüne Sträucher aus dem Meer aus gelb und braun hervor.

Ich mochte den Spätsommer sehr gerne.

Aus einem plötzlichen Impuls heraus setzte ich mich auf, klopfte Lancelot auf den Hals, umgriff den Strick fester und wies mein Pferd an: „Komm mein Großer, lauf!"

Lancelot wieherte, reagierte auf meine leicht drückenden Fersen und den Befehl, den ich mit einer gezielten Bewegung meiner Hüfte gab und trabte los.

Ich spornte ihn noch ein bisschen mehr an, wir galoppierten, sein Körper bewegte sich rhythmisch unter mir, der Wind fuhr durch meine Haare und für einen Moment genoss ich diesen Augenblick der Freiheit, in dem der Wind Geschichten erzählte, meine Sorgen sich in der Geschwindigkeit verloren und meine Gedanken ruhig waren.

Und dann bellte ein Hund, Lancelot bremste ab und ich öffnete meine Augen, denn der Moment war zu Ende.

Still Waters Run DeepWo Geschichten leben. Entdecke jetzt