Vorsichtig klopfte Ariana an die große schwere Holztür des riesigen Anwesens. Es war ein altes Schloss, das auf dem Gipfel eines Berges erbaut worden war. Am Fuße des Berges konnte man in der Ferne ein kleines Dorf erkennen, das wegen der bereits untergegangenen Sonne nur noch von Straßenlaternen beleuchtet wurde. Ungeduldig tippte Ariana immer wieder mit ihrer Fußspitze auf den Boden, während sie die Arme verschränkte. Ihre schwer bepackte Handtasche hatte sie sich über die Schulter geworfen. Schließlich wurde die Tür geöffnet, und vor ihr stand ein junger Mann. Er hatte lange, braune Haare und trug einen dunkelblauen Anzug. "Sie wünschen?", fragte er Ariana und machte eine verbeugende Geste. "Guten Tag, Herr Charlier!", sagte Ariana, kramte in ihrer Tasche und hielt dem Mann einen Ausweis hin, "Ich bin berufliche Exorzistin und komme im Auftrag vom Dorf Liedenthal am Fuße des Berges!" "Warum das denn?", wollte der Mann wissen. "Ich bin leider in keinem besonders schönen Auftrag unterwegs...", erwiderte Ariana, "Ich habe einige Geschichten gehört, dass nachts hier im Schloss oft seltsame Dinge vor sich gehen und manchmal sogar eine grauenvolle Kreatur gesehen wurde, die anscheinend von diesem Berg kommt und durch die Gassen des Dorfes spukt! Ich muss der Sache auf den Grund gehen!" Der junge Mann begann zu schmunzeln. "Diese Leute haben wirklich viel Fantasie...", antwortete er dann, "Hier auf meinem Gut passieren keine seltsamen Dinge, und hier spuken auch keine Kreaturen herum! Da kann ich Sie beruhigen..." "Das muss ich leider selbst überprüfen!", erwiderte Ariana, "Darf ich rein kommen?" Der Mann machte eine einladende Geste, und Ariana trat in ein riesiges Foyer, während der Mann hinter ihr die Tür schloss. Staunend betrachtete Ariana den mit Kerzenleuchtern geschmückten Eingangsbereich. In den Boden war ein hochwertiges, dunkles Holz mit einem feinen Muster eingelassen. Von der hohen Decke ragte ein großer Kronleuchter, welcher das Foyer in ein angenehmes Licht tauchte. Direkt vor ihr erhob sich eine riesige, edle Marmortreppe, die mit einem roten Teppich geschmückt war. Der Mann ging an ihr vorbei und stieg die ersten Treppen hinauf. "Folgen Sie mir, essen Sie doch mit mir zu Abend!", sagte er, ohne sich zu Ariana umzudrehen. "Wieso nicht...", murmelte Ariana und folgte dem jungen Mann die Treppe hinauf.
"Leben Sie hier eigentlich alleine?", fragte Ariana, als sie an der langen Tafel Platz genommen hatte. Das Essen stand bereits auf dem Tisch. "Schon seit ein paar Jahren!", antwortete der Mann, der sich ihr genau gegenüber gesetzt hatte, während er die Gabel zu seinem Mund führte. "Meine Mutter ist sehr früh bei einem Unfall gestorben, und mein Vater starb ebenfalls vor ein paar Jahren...", fuhr er fort. "Das tut mir sehr leid...", erwiderte Ariana und schnitt mit ihrem Messer eine Kartoffel. "Seltsam...", dachte Ariana, "So ein edles Haus mit allem, was man sich nur vorstellen kann... und dann nicht mal Silberbesteck? Als wenn das Geld dafür nicht mehr gereicht hätte..." "Schon in Ordnung!", meinte der Mann, "Ich lebe hier nun schon eine ganze Weile alleine, man gewöhnt sich dran!" Mit einem Mal entdeckte Ariana ein altes Gemälde, das an der gegenüberliegenden Wand hing. Es zeigte denselben jungen Mann, der ihr gegenüber saß. "Das Bild da...", sagte Ariana und zeigte auf das Bild, "Sind Sie das? Dieses Gemälde sieht ziemlich alt aus, und trotzdem sehen sie noch genauso aus wie auf dem Bild..." "Das bin nicht ich, das ist mein Vater! Wir sehen uns aber wirklich sehr ähnlich...", erwiderte der Mann lächelnd. "Trotzdem seltsam...", dachte Ariana. Sie hatte sich vorher über die Familie Charlier informiert, das gehörte zu ihrem Job. Allerdings sah der verstorbene Vater in ihren Unterlagen anders aus. Irgendetwas schien hier nicht zu stimmen. Einige Kleinigkeiten passten einfach nicht zusammen. Mit einem Mal beschlich Ariana ein mulmiges Gefühl. Hier auf dem Anwesen war irgendwas nicht so, wie es sein sollte. Aber sie durfte sich nichts anmerken lassen. Mittlerweile war ihr der Appetit vergangen. Mit einem Ruck stand sie auf: "Danke für das Essensangebot, aber ich bin eigentlich hier, um mir das Anwesen genauer anzusehen!" "Tun Sie sich keinen Zwang an! Sehen Sie sich ruhig um!", antwortete der Mann. Langsam durchquerte Ariana den Raum, während sie jeden einzelnen Winkel genau unter die Lupe nahm, und schließlich trat sie durch eine Tür am anderen Ende. Sie schien sich nun in einer Art Ballsaal zu befinden. Vor ihr ersteckte sich ein großes Parkett, und die gesamte dahinterliegende Wand war mit einem riesigen Spiegel geschmückt. Auch in diesem Raum befand sich ein großer Kronleuchter, der von der Decke hing, jedoch war die Decke so hoch, dass der Leuchter ihn nur in ein dämmriges Licht tauchte. "Sehr edel...", dachte Ariana beeindruckt und ging ein wenig auf den großen Spiegel zu.
"Gefällt Ihnen der Tanzsaal?", hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich. Überrascht drehte sie sich um. Einige Meter hinter ihr stand der junge Mann. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er ihr gefolgt war. "Sehr hübsch...", murmelte Ariana. Langsam dämmerte ihr, was hier vor sich ging. Vorsichtig drehte sie sich wieder zum Spiegel um. Sie konnte nur sich selbst im Spiegel sehen, der junge Mann hatte kein Spiegelbild! Das konnte nur eines bedeuten. "Du riechst so, als hättest du sehr süßes Blut!", hörte sie den Mann hinter sich mit einem Mal sagen. Abrupt drehte sie sich wieder zu ihm um. Er hatte den Mund geöffnet, und große, spitze Eckzähne blitzten hervor. "Du wirst mein kleiner Nachtisch!", flüsterte er mit einem hämischen Lächeln und ging langsam auf Ariana zu. Diese wich vor ihm zurück. "Ich wusste doch, dass hier etwas faul ist!", erwiderte sie, während sie versuchte, sich von dem näher kommenden Mann zu entfernen. So ein Ereignis hatte sie in ihrer ganzen Laufbahn als Exorzistin noch nicht erlebt. Der junge Mann fauchte laut und machte einen Sprung auf Ariana zu. Diese wich blitzschnell zurück, griff hektisch in ihre Tasche und zückte einen Revolver. Dann richtete sie ihn auf den Mann, der ihr immer näher kam. „Wie wäre es mit einer Patrone aus Silber?!", rief sie und drückte ab. Ein lauter Knall hallte durch den großen Raum. Der Mann schrie laut auf und hielt sich eine Hand vor die Brust, in die die Kugel eingedrungen war. Angespannt sah Ariana zu, wie der Vampir röchelnd auf seine Brust starrte, sich von innen heraus zu Asche verwandelte und schließlich als ein Haufen Staub zu Boden rieselte.
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Tiny Horrorstories
HorrorIn diesem Buch handelt jedes Kapitel von einer anderen, kurzen Horrorgeschichte. Dabei ist eine dämonische Puppe oder der Geist eines kleinen Mädchens noch lange nicht das Schlimmste! Viel Spaß beim Lesen!