Spieglein Spieglein an der Wand

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Schweigend stehe ich im alten Wohnzimmer meiner Mutter, zwischen all den Sachen, die ich schon mein ganzes Leben lang kenne. Die Beerdigung meiner Mutter ist letzte Woche gewesen. Sie hat in den letzten Jahren die meiste Zeit alleine verbracht, ich bin die einzige Person, die sie noch ab und zu besucht hat. Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb sie mir ihr gesamtes Vermögen hinterlassen hat. Ihr Geld, ihre Erbstücke und natürlich das einhundert Jahre alte Haus am Rande der Stadt, in dem schon meine Ur-Großeltern gelebt hatten. Mein Vater ist bereits vor ein paar Jahren verstorben, was sehr schlimm für meine Mutter war. Nach seinem Tod hätte sie eigentlich viel mehr Gesellschaft gebraucht, aber meine beiden älteren Geschwister hatten sich so mit ihr verkracht, dass sie nicht mal zu ihrer Beerdigung gekommen waren. So blieb nur noch ich, die kleine Schwester, übrig.

So stehe ich nun da, in ihrem Wohnzimmer, und betrachte die alten Möbel und Vitrinen mit den niedlichen Tassen darin, die alte Gaslampe und die Standuhr. Auch wenn ich hier meine Kindheit verbracht habe und eine Menge mit diesem Ort verbinde, werde ich das Haus meiner Mutter mitsamt der Einrichtung verkaufen. Ich habe inzwischen meine eigene Wohnung, mit der ich sehr zufrieden bin. Aber bevor ich eine Anzeige dafür aufgebe, will ich noch einmal das ganze Haus durchsuchen, um zu sehen, ob ich nicht doch noch etwas von den alten Sachen behalten möchte. Vielleicht finde ich ein paar alte Spielsachen von mir, oder Erbstücke. Ich gehe zu einer Kommode, die sich gleich neben der Tür befindet. Auf der Kommode steht ein Foto von meinen Eltern. Die beiden halten sich im Arm und lachen in die Kamera. Sofort muss ich auch lächeln. Ich nehme das Foto und stecke es in den Rucksack, den ich mir extra mitgenommen habe. Ich gehe ins Schlafzimmer und öffne die Schubladen am Nachttisch. Eine alte Perlenkette fällt mir ins Auge. Sie gefällt mir, ich lege sie mir um. Plötzlich fällt mir der Dachboden ein. Ich gehe die Treppe im Flur hinauf auf den Dachboden. Als ich das Licht anknipse, sehe ich nur viele von weißen Leinentüchern abgedeckte Gegenstände. In jeder Ecke hängen Spinnenweben. Hier muss seit Jahren niemand mehr gewesen sein. In ihren letzten Jahren ist meine Mutter sehr schlecht zu Fuß gewesen, deswegen hatte sie wohl keine Kraft mehr, die steilen Stufen hinaufzusteigen und sich um den Dachboden zu kümmern.

Ich gehe zum nächstbesten Gegenstand und ziehe mit einem heftigen Ruck am Leinentuch. Eine Staubwolke rieselt auf mich herab. Unter dem Laken kommt ein großer, prunkvoller Spiegel zum Vorschein. Er ist etwa so groß wie ich, hat eine ovale Form und einen mit Gold lackierten Rahmen. Auf dem Rahmen steht rund um den Spiegel etwas geschrieben. Ich muss genau hinsehen, um es zu entziffern. "Spieglein Spieglein an der Wand", lese ich. Ich muss schmunzeln. "Na gut, warum nicht!", lächle ich. Ich stelle mich mittig vor den Spiegel und sehe mir direkt in die Augen. Kurz habe ich das Gefühl, eine schattenhafte Gestalt würde direkt hinter mir stehen. Verwundert sehe ich genauer hin, aber es ist wohl nur mein eigener Schatten. "Spieglein Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?", sage ich selbstbewusst. Ich warte ein paar Sekunden, als wenn ich abwarten würde, ob ich eine Antwort bekomme. Aber es kommt natürlich keine Antwort. Plötzlich höre ich hinter mir ein Knarren. Erschrocken drehe ich mich um. Das Knarren scheint von einem der Gegenstände auszugehen, die verdeckt hinter mir stehen. Ich gehe hin und reiße das Tuch von einem der Gegenstand weg. Darunter kommt ein alter Schaukelstuhl aus Holz zum Vorschein. Er wiegt sich sanft und knarrt dabei. Verwundert drehe ich mich um und gucke mich im ganzen Dachboden um. Vielleicht zieht hier ja irgendwo ein Luftzug durch, doch auf den ersten Blick kann ich nichts finden. Als mein Blick in den Spiegel fällt, wirble ich erschrocken wieder zu dem Stuhl herum. Ich bin mir sicher, eben im Spiegel meine verstorbene Mutter auf dem Schaukelstuhl gesehen zu haben. Doch als ich den Schaukelstuhl betrachte, ist er leer. Ich schaue wieder in den Spiegel. Meine Mutter ist nirgendwo zu sehen. "Ich hab ja eine wilde Fantasie...", murmele ich und hebe das Laken auf, um den Spiegel wieder abzudecken. Plötzlich höre ich eine flüsternde Stimme. Ich zucke zusammen und lasse das Laken wieder fallen. "Du bist natürlich die Schönste, mein Schatz", meine ich gehört zu haben. Es hat wie die Stimme meiner Mutter geklungen. Jetzt bekomme ich es langsam mit der Angst zu tun. Was auch immer hier grade passiert, gibt mir ein mulmiges Gefühl. Bilde ich mir das alles nur ein, weil ich mir wünsche, dass meine Mutter noch lebt? "Die Kette steht dir gut!", höre ich plötzlich wieder. Ich gucke in den Spiegel und bin mir sicher, meine Mutter in einem weißen Kleid hinter mir im Schatten zu sehen. Erschrocken drehe ich mich wieder um, doch da ist keiner. Ich drehe mich zurück. Ich kann sie im Spiegel sehen. Jetzt überkommt mich doch meine Angst. Ich schreie los und renne zur Treppe.

So schnell ich kann, laufe ich die Stufen hinunter. Hauptsache weg von diesem unheimlichen Ort. Plötzlich stolpere ich in meiner Hektik und falle. Ich stürze, Stufe um Stufe, und unten angekommen, schlage ich mit meinem Kopf auf. Alles ist auf einmal schwarz. Bin ich tot?

Als ich wieder zu mir komme, liege ich im Krankenhaus. Ein Arzt kommt herein und schaut mich erleichtert an. "Endlich sind Sie wach!", sagt er. "Was ist passiert?", frage ich, "Ich bin doch von der Treppe gefallen!" "Wir haben einen Anruf bekommen, dass Sie gestürzt wären und dringend Hilfe bräuchten!", erwidert der Arzt, "Wir haben natürlich sofort einen Krankenwagen geschickt. Sie werden bald wieder gesund, machen Sie sich keine Sorgen! Aber eine Frage hätte ich da noch..." "Was denn?", will ich wissen. "Wer hat bei uns angerufen und nach Hilfe gebeten? Eine Frau hat mit dem Haustelefon angerufen, aber als wir dann ankamen, war niemand außer Ihnen dort!" Mein Herz beginnt zu rasen. Ich antworte nicht, da mir dazu keine Antwort einfällt. "Naja, kümmern wir uns erst mal um Ihren Tropf!", sagt der Arzt und verlässt mein Zimmer. Ich bin allein. Auch wenn es absurd klingt, bin ich sicher, dass es meine Mutter war, die mich gerettet hat. Ich habe sie definitiv im Spiegel gesehen auch gehört. Es scheint, als würde meine Mutter aus dem Jenseits über mich wachen.

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