Mit der Taschenlampe in der Hand ging Fiona durch die dunklen Gänge. Sorgfältig leuchtete sie in jede Ecke. Es war ihr erster Tag im Wachsfigurenkabinett, sie würde den Besitzer sicherlich nicht enttäuschen. Sie wurde als Nachtwächterin für das Kabinett angestellt. So hatte sie eine Schicht von zehn Uhr abends bis vier Uhr morgens, dann wurde sie von einem ihrer Kollegen abgelöst. Mittlerweile war es schon kurz nach zwölf Uhr, und jeder Angestellte und der Besitzer selbst waren schon gegangen. Fiona war also alleine. Es war der erste Job mit Festanstellung, den Fiona bekommen hatte, vorher hatte sie immer nur Nebenjobs gemacht, um sich ihre Ausbildung zu finanzieren.
Sie leuchtete in eine Reihe von Wachsfiguren. Es war eine Sammlung von berühmten Eroberern, unter anderem Cäsar und Napoleon. Sie sahen wirklich echt aus! Fiona schwenkte ihre Taschenlampe in die andere Richtung. Dort war ebenfalls eine Reihe von Wachsfiguren. Es waren bekannte Erfinder und Forscher, darunter Thomas Edison und Marie Curie. Zwischen den beiden stand eine weitere Figur mit zotteligem, weißem Haar. Fiona war diese Figur vorher nie aufgefallen, aber sie wusste, dass sie Einstein darstellen sollte. Als sie weiterging und in die nächste Ecke leuchtete, fiel ihr eine Wachsfigur auf, die sich irgendwie von den anderen unterschied: Sie hatte schneeweiße Haut und extrem dicke Wangen. Das Gesicht erinnerte eher an das eines Babys, die Figur keine Haare. Sie trug ein langes, samtartiges Kleid, welches ebenso weiß wie das Gesicht war. Die Figur sah ein wenig wie ein Gespenst aus. Fiona musste lächeln. "Wen stellt diese Figur nur da?", fragte sie sich. Auch wenn der Anblick etwas Schauriges hatte, war es doch genauso niedlich und witzig zugleich anzusehen. Sie ging weiter und hatte nach etwa einer halben Stunde ihre Runde beendet. Jetzt hatte sie bis um ein Uhr nachts Pause, bis es in die nächste Runde ging. Also machte sie sich auf den Weg ins Personalzimmer, ging hinein und ließ sich dort an einem Tisch nieder. Es war ein kleiner Raum. Rundherum war eine Theke angebracht, wo man seine Sachen ablegen konnte, und in einer Ecke stand ein Kaffeeautomat. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Tisch, um den rundherum einige Stühle standen. Fiona stand auf und schüttete etwas von dem Kaffee aus der Kanne in eine Tasse. Sie führte die Tasse zum Mund und trank einen kleinen Schluck. Der Kaffee war wohl noch vom Nachmittag, er schmeckte nur noch lauwarm und abgestanden. Angeekelt schüttete Fiona den Kaffee in die Spüle direkt neben dem Automaten und schaute auf ihre Uhr. Noch ein paar Minuten, dann ging es mit dem nächsten Rundgang los.
Als es schließlich soweit war, verließ Fiona den Personalraum wieder und machte sich auf den Weg zur nächsten Runde. Sie leuchtete wieder in die gleichen Ecken, in die sie schon in der Runde zuvor geleuchtet hatte. Doch mit einem Mal stockte sie: Die weiße Wachsfigur, die vorhin noch in der Ecke gestanden hatte, befand sich plötzlich zwischen ganz anderen Wachsfiguren! Hatte sie sich geirrt und die Figur stand schon die ganze Zeit an dieser Stelle? Das konnte eigentlich nicht sein. Jemand musste die Figur umgestellt haben! Fiona drehte sich zu allen Seiten um, doch als sie wieder zurück zu der Wachsfigur schaute, bekam sie eine Gänsehaut. Die weiße Figur war nicht mehr dort, sondern stand wieder in der Ecke, wo sie bei ihrer ersten Runde gestanden hatte! Fionas Herz schlug immer schneller. "Bloß nicht die Nerven verlieren...", dachte sie sich. Immerhin konnte es ja auch sein, dass ihre Augen ihr einen Streich gespielt hatten und die Figur die ganze Zeit in der Ecke gestanden hatte. Aber trotzdem hatte sie nun große Angst vor dieser Wachsfigur. Schnell ging sie weiter und leuchtete noch gründlicher in alle Richtungen. Doch als sie um einige Ecken gebogen war, hörte sie plötzlich hinter sich ein lautes Scharren, als ob ein schwerer Gegenstand über den Boden geschleift werden würde. Erschrocken drehte sie sich um und blickte direkt in die großen Augen der Wachsfigur, die nur wenige Zentimeter hinter ihr stand und sie anstarrte. Fiona schrie los und rannte in die andere Richtung davon. Hinter eine Ecke atmete sie tief durch. Dann nahm sie allen Mut zusammen und leuchtete mit der Taschenlampe um die Ecke. Der Gang war leer, nirgends war die Wachsfigur zu sehen. "Ich muss hier raus...", murmelte Fiona. Das war ihr zu viel, und sie wusste immer noch nicht, ob nur ihr Verstand verrücktspielte, oder ob das alles wirklich passierte. Während sie noch um die Ecke schaute, spürte sie mit einem Mal einen Windzug hinter sich. "Bitte nicht...", dachte sie panisch und drehte sich langsam um. Doch hinter ihr war nichts zu sehen. Sie musste hier raus! Sie lief los und wollte so schnell wie möglich zum Ausgang. Doch als sie um eine Kurve stürmte, bremste sie und blieb wie angewurzelt stehen. Die Wachsfigur stand am anderen Ende des Ganges und bewegte sich langsam auf Fiona zu! Fiona schrie wieder auf, drehte sich um und rannte in die andere Richtung davon. Wie sollte sie hier nur rauskommen? Während sie die Gänge in die andere Richtung davon lief, hörte sie plötzlich eine eindringliche, flüsternde Stimme. Es war etwas Unverständliches. "Ich bin wirklich verrückt! Das kann doch gar nicht sein...", murmelte Fiona mit ängstlicher Stimme.
Als sie an einer Tür mit einem Kameraschild vorbeikam, fiel ihr plötzlich der Raum mit den Überwachungskameras ein. Ohne nachzudenken, riss sie die Tür auf, setzte sich an einen Arbeitstisch mit vielen Computern und klickte die Überwachungsvideos der letzten Minuten durch. Und wirklich: Sie konnte sehen, wie sie durch die Gänge lief, plötzlich schrie und dann in die entgegengesetzte Richtung davonlief. "Ich wusste es! Es ist nicht real!", murmelte Fiona fassungslos. Sie stand wieder auf, ging zur Tür, öffnete sie und trat zurück auf den Hauptgang. So schnell sie konnte, lief sie zum Ausgang. Als sie jedoch den Haupteingang öffnete, stand die Wachsfigur direkt hinter der Tür und starrte sie an. Fiona zuckte kurz vor Schreck zusammen, doch dann sagte sie laut: "Ich weiß, dass du nicht real bist! Und jetzt lass mich durch!" Sie wollte sich an der Figur vorbeiquetschen, doch mit einem Mal bewegte sich die Figur! Sie packte Fiona am Hals und zog sie hoch! Nun realisierte Fiona: Es war doch keine Einbildung, die Figur war real! Doch es war zu spät und ihr wurde schwarz vor Augen...
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Tiny Horrorstories
HorrorIn diesem Buch handelt jedes Kapitel von einer anderen, kurzen Horrorgeschichte. Dabei ist eine dämonische Puppe oder der Geist eines kleinen Mädchens noch lange nicht das Schlimmste! Viel Spaß beim Lesen!