Zirkusdirektor Gino schaute aus seinem Wagen hinaus in die dunkle Nacht. Das große, bunte Zelt direkt vor der Tür hatten sie vor ein paar Tagen dort aufgestellt. Grübelnd zwirbelte Gino an seinem braunen Schnurrbart, während er sich umsah. Sein Wohnwagen parkte zwischen den anderen Wagen seiner Leute hinter dem großen Zelt. Langsam ging er die Stufen hinunter und zu einem anderen Wohnwagen hinüber. Dort ging er die Stufen hinauf und öffnete langsam die Tür, griff nach dem Lichtschalter und knipste das Licht an. Seufzend sah er sich in dem menschenleeren, gut möblierten Wohnwagen um. Im nächsten Moment kam hinter ihm jemand die Treppe herauf. Überrascht drehte sich Gino um. "Du bist es!", sagte er mit einem milden Lächeln. Hinter ihm stand eine junge, braunhaarige Frau mit Zopf und sportlicher Kleidung. Die Artistin lächelte auch ein wenig, ging auf Gino zu und umarmte ihn wortlos. "Ich kann es auch noch gar nicht glauben...", murmelte sie schließlich und ließ Gino wieder los. "Heute Morgen, da war er noch bei unserer Probe... und jetzt... jetzt ist er weg!", sagte Gino leise und senkte den Kopf. "Er hat uns alle immer zum Lachen gebracht, mit seinen lustigen Nummern!", fügte die Frau hinzu. "Warum muss es die Guten immer zuerst treffen?", fragte Gino wieder. Die Frau legte ihren Arm um ihn. "Es war ein Unfall, wir hätten nichts tun können! Komm, ich bringe dich zu deinem Wagen. Versuch dich ein wenig abzulenken!" Sie führte Gino aus dem Wohnwagen hinaus, die Stufen wieder hinunter und zurück zu seinem Wohnwagen.
Für einen Moment hatte Gino das Gefühl, einen Schatten im Augenwinkel zu sehen, doch als er sich umdrehte, war dort nichts Außergewöhnliches. Unbeirrt wendete er sich wieder zu seinem Wohnwagen um und ging mit der Artistin weiter darauf zu. Vor seiner Tür angekommen, packte die Frau ihn bei den Schultern. "Kann ich dich alleine lassen?", fragte sie besorgt. "Na klar, das geht schon!", erwiderte Gino dankend. Also machte sich die Frau auf den Weg zurück zu ihrem Wohnwagen, und Gino trat zurück in seinen eigenen. An diesem Abend legte er sich früh schlafen, um die Ereignisse des Tages verarbeiten zu können. Chris, der beste Clown, den der Zirkus je hatte, war tot. Darüber grübelnd schlief Gino langsam ein. Mitten in der Nacht hörte er plötzlich eine haarsträubende Stimme. "Bin ich nicht lustig genug?!", krähte die Stimme. Erschrocken fuhr Gino auf und blickte ins Zimmer. Am anderen Ende der Bettkante konnte er einen Schatten erkennen! Gino stieß einen Schrei aus und schaltete panisch das Nachtlicht an. Als er jedoch wieder zu der Stelle blickte, konnte er dort nichts Außergewöhnliches finden. Zittrig starrte Gino auf die Stelle auf der anderen Seite der Bettkante. Er hatte sicherlich nur geträumt. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, machte er sich noch eine Tasse Tee, um wieder einschlafen zu können. Nachdem er Wasser aufgekocht hatte, goss er es in die Tasse und gab einen Teebeutel dazu. Gespannt beobachtete er, wie sich die roten Schlieren des Teebeutels mit der klaren Flüssigkeit des Wassers vermischten und das Wasser eine immer kräftigere rote Farbe annahm. Als schließlich ein paar Minuten vergangen waren, holte er den Beutel heraus und führte die Tasse zum Mund. Als er jedoch den ersten Schluck nahm, spuckte er sofort aus und ließ erschrocken die Tasse fallen. Es gab ein lautes Scheppern und der Fußboden war mit Scherben übersät. Das, was er eben getrunken hatte, war kein Tee gewesen. Es schmeckte salzig und metallisch. Das war Blut.
Als Gino sich wieder ein bisschen beruhigt hatte, sammelte er mit einem Kehrblech die Scherben auf. Die Pfütze, die durch den ausgelaufenen Inhalt des Tees entstanden war, hatte jedoch nicht mehr die Konsistenz von Blut. Gino hielt vorsichtig einen Finger hinein und leckte ihn ab. Es war nur normaler Tee. "Die ganze Sache scheint mich ja sehr mitzunehmen...", murmelte Gino. Da er jetzt sowieso nicht mehr schlafen konnte, beschloss er, einen nächtlichen Spaziergang zu machen. Also zog er sich eine Jacke an, da es inzwischen etwas kälter geworden war, und verließ das Zelt. Er ging zwischen den Wohnwagen entlang und machte eine große Runde einmal um den gesamten Platz, wo sich der Zirkus niedergelassen hatte. Gerade, als er zwischen den Wohnwagen zurück zu seinem eigenen Wagen gehen wollte, hörte er hinter sich plötzlich ein Knacken, als wenn jemand auf einen Ast getreten wäre. Überrascht drehte sich Gino um- und dann stockte ihm der Atem. Vor ihm stand eine Gestalt, mit einem bunten Outfit und einem Paar viel zu großen Schuhen. Das Gesicht war weiß geschminkt, doch es war völlig von Schlamm verdreckt. Die Kreatur trug eine rote Nase und eine knallrote Perücke. Doch die Augenhöhlen waren eingefallen und beinhalteten keine Augen mehr. Der Kiefer des Monsters schien ausgerenkt zu sein, so weit hatte es sein Maul aufgerissen. Es starrte Gino lautlos aus seinen leeren Augenhöhlen an. Nun bekam es Gino mit der Angst zu tun, und er schrie los. Die Gestalt gab ein schrilles Lachen von sich und sprang auf Gino zu. Dieser hielt sich ängstlich schützend die Hände vor sein Gesicht, doch als er nichts spürte und er seine Hand vorsichtig senkte, war er allein und konnte das Monster weit und breit nicht mehr sehen. "Ich werde noch wahnsinnig... das ist alles nicht real!", murmelte Gino außer Atem, "Das bilde ich mir doch alles nur ein, weil ich den Tod von Chris nicht verarbeiten kann!"
Im nächsten Moment wurde im Wohnwagen nebenan eine Tür geöffnet und ein älterer Mann schaute heraus. "Warum schreien Sie hier so rum? Es ist mitten in der Nacht! Ist alles in Ordnung?", fragte er. "Ja, alles in Ordnung...", antwortete Gino abwesend und machte sich wieder auf den Weg zurück zu seinem Wohnwagen. "Das sind alles nur Einbildungen!", redete sich Gino ein, "Das passiert wohl, wenn er jemanden sterben sieht... Das verfolgt einen ja in den schlimmsten Alpträumen...". Als er am Hintereingang vom Zirkuszelt entlangging, griffen plötzlich zwei Hände nach ihm und zerrten ihn hinter den Vorhang. Gino stieß einen kleinen, erschrockenen Schrei aus, aber dann merkte er, dass es nur die Artistin war. Sie drückte ihm ihren Zeigefinger auf den Mund. "Psssst!", sagte sie leise, "Ich habe es auch gesehen! Es ist real!"
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Tiny Horrorstories
HorrorIn diesem Buch handelt jedes Kapitel von einer anderen, kurzen Horrorgeschichte. Dabei ist eine dämonische Puppe oder der Geist eines kleinen Mädchens noch lange nicht das Schlimmste! Viel Spaß beim Lesen!