Winters Gemälde

88 7 0
                                    

Mit den Händen auf dem Rücken stand Richard zufrieden lächelnd vor seiner Kunstgalerie. Wenn man so viel Geld besaß wie Richard, hätte man vermutlich auch mit dem Sammeln von wertvollen, antiken Stücken begonnen. Spenden kam für Richard nicht infrage; er hatte sein ganzes Leben hart gearbeitet und sich seinen Ruhestand mit einem Haufen Geld redlich verdient. Richard drehte sich um und ging ein Stück durch die Galerie, während er nacheinander jedes einzelne der Gemälde betrachtete. Es war eine wirklich beachtliche Sammlung, er hatte vor einiger Zeit sogar einen echten Picasso ersteigern können. Richard warf einen kurzen Blick aus einem der Fenster zwischen den Gemälden. Sein riesiges Anwesen wurde von der Nacht in einen schwarzen Schleier gehüllt. Die Nacht war so klar, dass man die Sterne gut erkennen konnte. Auf der Wiese hinter dem Anwesen konnte man ein kleines flackerndes Licht sehen. Es war das Grab von Richards verstorbener Frau Annabelle. Sie hatte an Krebs gelitten. Sehnsüchtig wendete Richard seinen Blick vom Fenster ab und widmete sich wieder seiner Sammlung. Als er schließlich am Ende der Galerie angekommen war, musste er wieder lächeln. Es war das neueste Werk, das er vor einer Woche ersteigert hatte. Es war ein Gemälde von Friedrich Winter, ein Maler, der in den oberen Fachkreisen für seine Kombination aus Abstraktion und Realismus bekannt geworden war. Er war vor etwas mehr als einhundert Jahren verstorben, und seine Werke hatten einen großen Wert für Sammler wie Richard.

Richard betrachtete das neu erworbene Gemälde noch einmal ganz genau: Es war ein französischer Feldherr darauf zu erkennen. Er trug eine vornehme Rüstung und einen breiten Hut. Ein wenig wie Napoleon auf seinen Darstellungen. Um seinen Hals trug er ein goldenes Amulett, doch es war zu klein, um zu erkennen, was darauf eingraviert war. Er hielt poetisch sein Schwert in die Luft und blickte zu etwas Unerkennbarem über ihm hinauf. Der Hintergrund war in roten Farben gehalten. Wenn man etwas genauer hinsah, konnte man erkennen, dass der Hintergrund aus blutverschmierten, kleinen Händen bestand, die gegen eine unsichtbare Wand drückten. "Die Kombination aus realistischer Darstellung und abstraktem Hintergrund... einfach herrlich", schwärmte Richard leise vor sich hin. Schließlich drehte er sich um und machte sich auf den Weg in den kerzenerleuchteten Speisesaal, um dort zu Abend zu essen. Seine Angestellten hatten ihm das Essen schon zubereitet und unter edlen Silberhauben bereitgestellt, um es für ihn warm zu halten. Danach war Feierabend, also waren sie nach Hause gefahren, und so war Richard nun bis zum nächsten Morgen allein. Also setzte er sich an das Ende der gigantischen Tafel und nahm nacheinander die Silberhauben ab. Ein köstlicher Duft stieg ihm in die Nase. "Das schmeckt...", dachte er, während er in ein Stück Roulade biss.

Plötzlich hörte er aus der Ferne mehrere Schreie. Sie kamen aus diesem Gebäude! Richard stockte und lauschte. Es hörte sich an, als würden mehrere Menschen unerträgliche Qualen leiden. Dabei war er doch eigentlich alleine in seinem Anwesen! Waren einige seiner Angestellten doch länger geblieben? Richard stand auf und trat vorsichtig in den Flur vor dem Speisesaal. Die Schreie kamen aus der Richtung seiner Galerie! "Hallo?! Ist etwas passiert?", rief Richard in die Ferne, doch es kam keine Antwort. Aus dem Schreien wurde mittlerweile ein verzweifeltes Stöhnen. Nun machte sich Richard langsam Sorgen und er beschloss, zu seiner Galerie zu gehen und nachzusehen, doch die Laute wurden immer leiser, je näher er der Galerie kam. Als er schließlich um eine Ecke lief und er endlich seine Galerie erreicht hatte, waren die Laute vollständig verstummt. Richard sah sich besorgt um. "Hallo?", rief er. Doch es kam keine Antwort. Irritiert sah Richard sich genau um, aber alles schien normal zu sein. Doch halt! Sein Blick blieb an dem Gemälde von Winter hängen. Der stattliche Franzose mit der Uniform starrte ihn direkt an. Hatte er nicht vorher in den Himmel gesehen? In Richard breitete sich ein merkwürdiges Gefühl aus. Er ging über den Flur bis zur anderen Seite und schaute dort um eine Ecke, um zu gucken, ob dort vielleicht die Person war, die er zuvor gehört hatte. Doch auch dort war niemand aufzufinden. "Hallo? Ist da jemand?", schrie Richard nun noch lauter als zuvor. Doch auch diesmal kam keine Antwort. War er wirklich alleine und hatte sich das Geschrei nur eingebildet? Kopfschüttelnd drehte er sich um. Als er den Flur wieder zurückging, blieb er plötzlich stocksteif stehen. Der Mann in Winters Gemälde- er war weg! Nur noch die blutigen Hände im Hintergrund waren zu sehen, welche sich nach Richard auszustrecken schienen. Richard war wie versteinert, er konnte keinen Schritt mehr gehen. "Nein... das träume ich nur...", murmelte er ungläubig. Plötzlich hörte er leise Schritte und ein Klappern. Er hörte genauer hin. Die Schritte wurden immer lauter, und das Klappern konnte er einer Rüstung zuordnen. Die Geräusche wurden immer lauter und lauter, und Richard wusste: Was auch immer das war, es würde gleich um die Ecke am Ende des Flures kommen! Nun machte sich die völlige Panik in ihm breit, und er sah sich verzweifelt nach etwas um, wo er sich sicher verstecken konnte. Dann fiel ihm ein großes Sofa ins Auge, welches mit einer geblümten Decke überzogen war. Er hatte es vor einigen Jahren in die Galerie gestellt.

Schnell ging er auf die Knie und kroch unter das Sofa. Gerade noch rechtzeitig. Er konnte nur durch einen schmalen Spalt hindurchsehen. Das Geräusch wurde lauter und lauter, und er konnte nur eiserne Schuhe erkennen, die langsam den Flur entlangschlurften. Die Gestalt schliff ein langes, dünnes Schwert hinter sich her. Die Rüstung klapperte mit jedem Schritt. Richard hielt die Luft an, um keinen Laut von sich zu geben. In der Mitte des Flures blieben die Schuhe kurz stehen. Für einen Moment dachte Richard, die Gestalt hätte ihn entdeckt, doch dann setzten sie sich wieder in Bewegung und verschwanden schließlich auf der anderen Seite des Flures um eine Ecke. Dann wurden die Geräusche leiser, und schließlich war alles wieder totenstill. Richard atmete erleichtert auf. Was auch immer das war, es hatte ihn nicht gesehen. Aber was ging hier vor? Plötzlich spürte er dort unter dem Sofa einen warmen Luftzug in seinem Nacken, als wenn ihn jemand von hinten angehaucht hätte. Richard drehte sich um und blickte direkt in die toten Augen des Feldherrn, der ihm seinen fauligen Atem ins Gesicht hauchte und Richards Schreie mit einer dürren, knorrigen Hand erstickte...

Tiny HorrorstoriesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt