Lost Place

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Ich knipse die Taschenlampe an. Vor mir befindet sich eine bereits eingetretene Tür. "Felix! Die Tür ist schon auf!", sage ich. "Das ist gut! Komm, gehen wir rein!", höre ich die Stimme meines besten Freundes direkt hinter mir. Nacheinander betreten wir einen dunklen Flur. Ich hebe meine Hand und leuchte mit der Taschenlampe in den Raum hinein. Wir blicken auf einen verschmutzten Fußboden, der mit Putzstaub bedeckt ist. Er scheint von den Wänden abzubröckeln. Auch wenn man draußen in der Abenddämmerung noch recht gut sehen kann, ist es hier drin fast komplett dunkel, weil die Rollläden zugezogen sind. Felix und ich besuchen in unserer Freizeit sehr gerne die sogenannten "Lost Places", meist sind es verlassene Häuser, die weit außerhalb von Dörfern und Städten zu finden sind. Heute hatten wir uns ein kleines Einfamilienhaus am Rande eines nahen Waldgebietes ausgesucht. Auf der Website, wo wir diesen Lost Place gefunden hatten, steht, dass das Haus einst einem Jäger gehörte, bevor es verlassen wurde. "Jetzt geh' schon weiter!", drängelt Felix hinter mir. "Genieß doch einfach mal kurz die Atmosphäre hier!", erwidere ich und gehe langsam in den dunklen Flur hinein, während ich mit der Taschenlampe vor mir durch den Raum leuchte. Im Flur sind so gut wie keine Möbel mehr vorhanden. An den Wänden kann man rechteckige, helle Flecken erkennen, was darauf schließen lässt, dass dort bis vor kurzem noch Bilder gehangen hatten. Vor mir befindet sich eine halb offenstehende Tür zu einem anderen Zimmer. Ich gehe darauf zu und höre die Schritte meines besten Freundes, der mir hinterher läuft. Als ich das Zimmer betrete, fällt mir sofort ein kleiner, runder Holztisch auf, der zusammen mit einem grünen Sofa in einer hinteren Ecke steht. Auf dem Tisch liegen anscheinend ein paar alte Zettel und Zeitschriften. Das ist der perfekte Raum, um mehr über diesen Lost Place zu erfahren! Neugierig laufe ich auf den Holztisch zu. Bevor ich ankomme, höre ich hinter mir das Klicken einer weiteren Taschenlampe. "Ich gehe schon mal in einen anderen Raum und sehe mich dort um!", sagt Felix. "Mach das!", antworte ich, ohne mich zu ihm umzudrehen. Ich höre, dass er in einen anderen Raum läuft und seine Schritte schließlich in der Ferne verstummen.

Inzwischen bin ich an dem kleinen Tisch angekommen und werfe einen Blick auf die verschiedenen Zettel, die dort liegen. Vorsichtig hebe ich einige davon hoch. Darunter kommt eine alte Zeitung zum Vorschein! Genau auf so einen Fund habe ich gehofft. Ich nehme die Zeitung hoch und sehe sie mir genauer an. Laut dem Datum ist die Zeitung etwa fünf Jahre alt. Ich blättere zum Lokalteil, und sofort fällt mir eine große Überschrift ins Auge: "Wildunfall: Jäger von Wildschwein getötet". Das ist genau das, was ich mir erhofft hatte. Jetzt weiß ich endlich etwas über die Umstände, wie der Jäger ums Leben kam. Doch plötzlich stocke ich. Wenn der Jäger zuletzt alleine gelebt hatte und von einem Wildschwein getötet wurde, wie kommt dann diese Zeitung hierher? Beunruhigt drehe ich mich um und blicke auf eine Tür, durch die Felix gelaufen war. "Felix? Ich habe hier etwas, das solltest du dir mal ansehen!", rufe ich in die Dunkelheit. Es kommt keine Antwort. "Felix?!", rufe ich noch etwas lauter. Plötzlich höre ich ein lautes Poltern, das aus der oberen Etage zu kommen scheint. "Was war das?", denke ich erschrocken und laufe zur anderen Seite des Zimmers und betrete den dunklen Raum, in den Felix eben verschwunden war. Die Taschenlampe halte ich schützend vor mich. Schließlich finde ich eine Treppe im hinteren Teil des Raumes. Ich nehme immer zwei Stufen auf einmal, um schneller oben zu sein. "Felix!", rufe ich wieder, als ich oben ankomme. Doch er antwortet immer noch nicht. Hoffentlich ist ihm nichts passiert! Ich befinde mich wieder in einem Flur. Auf beiden Seiten hängen ausgestopfte Köpfe von wilden Tieren an den Wänden. So schnell ich kann, durchquere ich den Raum und laufe auf eine verschlossene Tür zu, die sich am anderen Ende des Flurs befindet. Ich drücke die Klinke herunter, öffne die Tür und betrete einen weiteren dunklen Raum. Als ich mit der Taschenlampe hineinleuchte, sehe ich ein großes Bett auf der anderen Seite des Zimmers. Das muss das Schlafzimmer sein.

Vorsichtig mache ich einen Schritt hinein und versuche, so leise wie möglich zu sein, um vielleicht ein Geräusch zu hören. Doch alles ist totenstill. Ich leuchte mit der Taschenlampe systematisch durch das Zimmer. Als der Lichtkegel auf den Boden fällt, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Die Taschenlampe von Felix liegt mitten im Raum. Was hat das zu bedeuten? Und wo ist Felix? Spielt er mir nur einen dummen Streich? So musste es sein. Ich setze mich an die Bettkante und stütze mich mit meinen beiden Händen ab. Die Taschenlampe lege ich vor mir in meinen Schoß. "Es reicht jetzt, Felix! Komm wieder her!", rufe ich. Es antwortet mir immer noch niemand. Ich versuche immer noch, irgendwo im Haus ein Geräusch zu hören, aber es ist völlig still. Doch mit einem Mal höre ich tatsächlich etwas. Ein Rumpeln! Es kommt aus der unteren Etage. Doch es hört sich nicht wie Felix an. Es klingt wie das Trappeln von einem Tier! Schockstarr sitze ich an der Bettkante und spitze die Ohren. Das Trappeln scheint die Treppe herauf zu kommen! Plötzlich höre ich ein aggressives Grunzen und dann ein Schreien- aber nicht das Schreien eines Menschen, sondern das eines Tieres! "Ein Wildschwein...", dachte ich erschrocken. Panisch knipse ich die Taschenlampe aus und ziehe die Beine hoch, dass sie auf dem Bett liegen. Hoffentlich hat mich das Wildschwein nicht bemerkt! Nun sitze ich in kompletter Dunkelheit. Das Trappeln kommt immer näher. Ich höre, wie die Tür ein Stück aufgeschoben wird. Ich halte mir die Hand vor den Mund, um keine Atemgeräusche zu erzeugen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Dann ertönt wieder das Trappeln. Doch es scheint an der Decke sein. Was geht hier vor sich? Plötzlich ist es wieder still. Ich warte einige Sekunden, doch ich kann nichts mehr hören. Es hat so geklungen, als wäre jemand an der Decke gelaufen! Ich nehme allen Mut zusammen, greife die Taschenlampe, richte sie zur Decke und knipse sie an. Im nächsten Augenblick durchfährt mich eine Schockstarre. Felix sitzt kopfüber an der Decke, direkt über mir! Seine Gliedmaßen sind komisch verrenkt und überall ist seine Kleindung zerrissen. Als wenn er von einem Wildschwein zerfleischt worden wäre. Er starrt mich mit leeren Augenhöhlen an und öffnet langsam seinen Mund. Dann ertönt das laute Schreien eines wütenden Wildschweins. Aus seinem Mund. Ich will schreien, ich will weglaufen. Aber ich kann mich nicht einen Millimeter rühren. Ich bin wie versteinert. Dann springt die grässliche Gestalt, die früher mal mein bester Freund war, immer noch schreiend, von der Decke auf mich drauf und fällt über mich her. Das letzte, was ich sehe, ist der Umriss eines Mannes mit Gewehr, der aus der Ecke beobachtet, wie ich sterbe.

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