Neunzehn

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Gedankenverloren spielte Eileen mit dem Anhänger ihrer Kette.
Ihre Geografielehrerin erzählte irgendetwas über Ölvorkommen im Osten.
Normalerweise fand sie das Fach nicht uninteressant, aber seit dem vorherigen Abend war es unmöglich, sich auf eine Sache zu konzentrieren.
Ständig schwirrten Cian und das Geheimnis ihrer Familien in ihrem Kopf herum.
Es wäre alles leichter gewesen, wenn sie mit ihm persönlich hätte sprechen können, aber er war nicht zur Schule gekommen.
Das hatte es Billie und Reed noch leichter gemacht, über ihn zu schimpfen.
"Warum hat er uns überhaupt verfolgt?", rief Billie beim Mittagessen wütend. "Hat er denn nichts Besseres zu tun?"
"Er hat mir geholfen. Ich wäre mit dem Kopf auf den Treppen aufgeschlagen.", erwiderte Eileen müde.
Es war ihr immer noch peinlich und sie würde ihn deswegen sicher nicht verliebt als Helden feiern, aber es kam ihr nur fair vor, zu erwähnen, dass er nicht bloß Ärger gemacht hatte.
"Hast in deiner Verliebtheit schon vergessen, was für ein Arschloch er ist?", brummte Billie.
Eileen sah sie ungläubig an.
"Meinst du das ernst?"
"Na ja, du geiferst dem Kerl schon ein bisschen hinterher.", meinte Reed.
Sie knallte ihre Gabel auf den Tisch, schnappte sich ihren Rucksack und stand auf.
"Gut zu wissen, was ihr über mich denkt.", zischte sie und verließ die Kantine.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie schlang ihre Arme um sich und ging mit schnellen Schritten den Gang hinunter.
Sie wäre am liebsten nach Hause gegangen und hätte sich in ihrem Zimmer verkrochen, aber sie hatte noch vier Stunden Unterricht vor sich.
Mit Billie und Reed, die sie offenbar für ein verliebtes Dummchen hielten.
Bei dem Wort verliebt zog sich etwas in ihr zusammen, während gleichzeitig ihre Wangen warm wurden.
Sie konnte das Kribbeln, dass sie bei dem Gedanken an Cian verspürte, nicht leugnen, aber sie wusste, dass es dumm war.
Trotz seines eingehaltenen Versprechens hatte sie von ihm nicht viel zu erwarten.
Er trug einige Geheimnisse mit sich, die ihn von anderen fernzuhalten schienen.
Mit einem Seufzen lief sie nach draußen und lehnte sich dort gegen einen der Bäume, die im Hof standen.
Wann war dieser Junge so wichtig für sie geworden, dass sie ständig an ihn denken musste?
Sie musste mit ihm sprechen und das ein für alle Mal klären.

Cian wachte am Ufer seines Sees zwischen dem Schilf auf.
Blinzelnd sah er das Blätterdach des Baumes an, der seit er denken konnte, an diesem See Wache hielt.
Sein Kopf brummte, es dauerte eine Weile, bis die dunklen Punkte aus seinem Blickfeld verschwunden waren.
Ächzend setzte er sich auf. 
Alles schien zu schmerzen. Er schätzte, dass es später Vormittag sein musste.
Diesmal hatte der Fluch länger gewirkt. 
Er stieß ein paar Schimpfwörter aus und kroch dann zu der Weide. 
Darunter lag immer eine Tasche mit Ersatzkleidung. 
Er holte gerade eine Jeans heraus, als er etwas hörte. 
Sein Blick fuhr hoch. Ein Fahrrad kam auf den See zu.
Das Mädchen darauf hätte er inzwischen überall wiedererkannt. 
Eileen lehnte ihr Rad gegen einen der Pfeiler am Anfang des Stegs und trat dann auf das knarrende Holz.
Sie sah traurig aus. 
Das schlechte Gewissen fraß sich in sein Herz. Er war einfach verschwunden, mal wieder.
Natürlich hatte er keine Wahl, aber Eileen konnte nicht verstehen, warum.
Wie sollte er ihr es auch sagen, ohne dass sie schreiend davonlief oder ihn einweisen ließ?
Nein, es war besser, wenn sie ihm dabei half, den Fluch zu lösen, ohne dass sie etwas wusste.
Er zog sich rasch im Schutz des Schilfs an und trat dann dahinter hervor.
Eileen saß am Rand des Steges, ihre Beine hingen über dem Wasser, ihr verzerrtes Spiegelbild sah ihr auf der ruhigen Wasseroberfläche entgegen.
Sie schien Cian nicht zu bemerken, als er um das Ufer herumging und schließlich ebenfalls auf den Steg trat. 
Als er hinter ihr stand, bezweifelte er, dass sie seine Schritte nicht gehört hatte. Bestrafte sie ihn mit Schweigen?
Er widerstand dem Drang, ihr das über die Schultern hängende Haar zurückzustreichen.
Stattdessen setzte er sich neben sie.
"Was machst du hier, Tiger? Du müsstest eigentlich im Unterricht sein."
"Du doch auch.", gab sie tonlos zurück.
Es machte ihn irre, nicht zu wissen, ob sie nun wütend oder enttäuscht war.
"Was ist los? Rede mit mir.", bat er.
Eileen griff nach ihrer Kette und zog den Anhänger hervor. 
"Du hast sie gefunden.", murmelte sie. 
Ein egoistisches Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
"Ja. Sie war tatsächlich etwas im Schlamm versunken, hat aber im Sonnenlicht geglitzert. Ich hab sie vorher auch geputzt, keine Sorge."
"Ich versteh's nicht."
"Was denn?"
"Du hältst deine Versprechen, aber du erzählst mir nichts. Was ist das mit unseren Familien?"
Cian sah auf das Wasser. Er traute sich nicht, ihren Blick zu erwidern.
"Das ist eine lange, komplizierte Geschichte. Glaube ich. Ich verstehe auch nicht alles davon."
Etwas Warmes berührte ihn. Eileen hatte zögerlich ihre Hand auf seine gelegt.
Sie wusste nicht einmal, was sie damit in ihm auslöste.
"Dann erzähl mir das, was du verstehst."
"Ich glaube, dass ich dir nichts Neues erzählen kann."
"Gut, dann erzähl ich dir etwas. Die verschwundene Fiona Lear war meine Großtante."
"Was?"
"Sie ist die ältere Schwester auf dem Foto."
"Darum wart ihr in dem Haus."
"Ja. Jetzt sag mir, was du weißt. Selbst, wenn ich es schon weiß. Ich will diese verdammte Puzzle endlich zusammensetzen."
Wut schwang in ihrer Stimme mit. Cian fühlte sich noch schlechter, doch ihre Hand lag noch immer auf seiner.
Auch ihr schien das langsam klar zu werden und sie zog sie hastig weg, was ihm ein Grinsen entlockte. Vor allem da sie rot wurde.
Vielleicht war doch noch nicht alles verloren.
"Ich bin mir bei einer Sache noch nicht sicher. Ich will dem lieber nachgehen, bevor ich etwas in die Welt setze, was vielleicht gar nicht wahr ist."
"Seit wann bist so vorsichtig?"
"Ich will dich einfach nicht anlügen."
Nicht noch mehr.
Diesmal suchte er ihren Blick. 
Ihre grünen Augen starrten ihn an. Unglaube und noch etwas anderes lagen darin.
Kaum merklich beugte er sich zu ihr hinunter. 
Ihre Wangen wurden erneut rot, doch sie wich nicht zurück.
Cian musste sich zusammenreißen, um ihr nicht noch näher zu kommen.
Es wäre falsch.
"Ich... sollte dann gehen.", sagte er seufzend und stand auf.
Er hielt Eileen die Hand hin. Er wusste, dass sie allein aufstehen konnte, aber diese unschuldigen Berührungen waren alles, was er hatte.
Zu seiner Freude ergriff Eileen sie und ließ sich hochziehen.
"Ich sollte auch wieder zurück. Ich hab noch die Schule geschwänzt."
Sie wandte sich ab und ging zu ihrem Fahrrad.
Mit einem Ziehen in der Brust wollte Cian zurück zur Villa gehen, als Eileen sich noch einmal zu ihm umdrehte.
"Aber das war es wert.", fügte sie hinzu, eher sie auf das Fahrrad stieg und in den Wald fuhr.
Cians Herz machte einen Sprung.

Der Froschkönig (Märchenadaption)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt