Vier

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Im Wald fand Eileen die Ruhe, die ihr auf dem Sportplatz gefehlt hatte. Irgendwo im dichten Blätterdach sang ein Vogel. Die Sonne schien hindurch und kitzelte ihre Nasenspitze. Sie folgte dem Weg durch den Wald so lange, bis sie das Zeitgefühl verlor. Irgendwann wurde die Bäume weniger. Hinter ihnen lag zwei grüne Hügel und davor ein See. Ein See mit klarem Wasser. Einen Moment lang zuckte Eileen erschrocken zurück. Sie wollte nach Hause laufen, weit weg von diesem Gewässer. Ihr Herz schlug schmerzhaft schnell in der Brust. Erinnerungen an den Tag vor sieben Jahren kamen hoch und drohten sie zu ersticken. Aber je länger sie auf den See starrte, desto mehr glaubte sie, dass dieses Gefühl wieder nachließ. Ihr Herz beruhigte sich nach einiger Zeit wieder. Sie drängte die schmerzhaften Erinnerungen in die hinterste Ecke ihres Gedächtnises und machte einen zögerlichen Schritt nach vorn. Auf eine seltsame Weise war dieser See schön. Bis auf die Mitte konnte man überall auf den von kleinen Steinen bedeckten Boden sehen. Einige abgebrochene Äste lagen auf dem Grund. Sie glaubte, die Umrisse eines Fisches zu sehen. Ein schmaler Steg führte fast bis zur Mitte hinein. Langsam wagte sie einen Schritt hinauf. Das alte Holz ächzte unter ihrem Gewicht und sie trat wieder zurück. Sie hatte schon so lange Angst vor dem Wasser, aber irgendetwas an diesem See faszinierte sie. Ein Stück vom Ufer entfernt ließ Eileen sich ins Gras fallen und atmete tief durch. Die Luft hier war weit besser als die in der Stadt. Irgendwo sang ein Vogel und der Moment schien beinahe zu idyllisch, um wahr zu sein. Entspannt schloss Eileen die Augen und driftete mit den Gedanken irgendwo hin ab...

Sie stand vor einem großen Kamin. Die Hitze des Feuers brannte angenehm auf ihrer Haut. Das Knistern des Holzes erfüllte den Raum, genau wie der Duft, den es erzeugte. Ihe Körper wurde schwer und müde. Sie ließ sich in einen großen Sessel fallen und starrte so lange in die Flammen, bis ihre Augen fast zufielen. Einen Moment lang glaubte sie, das Feuer wurde golden aufleuchten. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf und blickte zum Fenster, wo langsam Schneeflocken herab rieselten. Sie lächelte.

Die Sonne war verschwunden, als Eileen aufwachte. Sie fröstelte und sah sich um. Bei Nacht sah alles, vor allem der See, um einiges bedrohlicher aus. Sie hörte das Quaken der Frösche und stand hastig auf. Mit ihrem Handy leuchtete sie den Weg durch den Wald entlang bis in die Stadt zurück. Es war schon spät und es war kaum etwas los. Eileen rannte so schnell sie konnte und blieb außer Atem vor ihrem Haus stehen. Ihre Mutter hatte sie fünfmal angerufen. So leise wie möglich öffnete sie die Tür.
Ihre Mutter lehnte bereits mit verschränkten an der Kommode im Flur.
"Schön, dass die junge Dame auch mal nach Hause kommt."
"Tut mir leid, ich bin eingeschlafen."
"Bei einem Basketballspiel?"
Eileens Blick fuhr hoch.
"Woher..."
Ihre Mutter grinste.
"Ich hab eine Schulkollegin von dir, Belinda, glaub ich, im Supermarkt getroffen. Sie hat mich erkannt, weil sie sonst anscheinend jeden hier kennt. Und sie meinte, du wärst mit einem Freund von euch bei diesem Spiel."
"So war es auch. Aber ich hab mich gelangweilt, bin spazieren gegangen und dann eingeschlafen. Tut mir leid."
Ihre Mutter seufzte.
"Hauptsache, dir ist nichts passiert. Komm, ich muss dir was zeigen."
Sie führte Eileen ins Wohnzimmer, wo ein großer Karton auf dem Couchtisch stand.
"Du weißt ja, dass ich als Kind hier gelebt habe, eher ich zum Studium nach Dublin ging und deinen Vater kennenlernte..."
Eileen nickte.
"Und das..." Ihre Mutter öffnete lächelnd den Karton. "... sind Erinnerungsstücke von damals."
Neugierig durchforstete Eileen die Sachen. Es waren hauptsächlich alte Fotos aus der Schule. Darunter lagen ein Album mit getrockneten Pflanzen, ein Teddybär mit nur einem Ohr, Murmeln, ein paar handgemalte Geburtstagskarten und ein kleines Schmuckkästchen. Darin befand sich eine lange, dünne Kette, an deren Ende ein runder, goldener Anhänger baumelte. Ihre Mutter merkte, wie fasziniert Eileen von der Kette war.
"Sie ist schon sehr alt. Deine Großmutter hatte sie von ihrer Mutter oder Großmutter... Du kannst sie haben, wenn du willst. Ich hab sie seit Jahren nicht getragen."
"Danke."
Vorsichtig, als wäre es aus zerbrechlichem Glas, legte Eileen sich das Schmuckstück um den Hals und genoss das Gefühl des kühlen Metalls auf ihrer Haut.
"Wo habt ihr früher eigentlich gelebt?"
Ihre Mutter starrte gedankenverloren zum Fenster hinaus.
"Es kommt mir wie ein ganzes Leben vor, seit ich dort weg. Ich weiß nur, dass meine Mutter das Anwesen wenig später verkauft hat."
Eileens sah sie überrascht an.
"

Anwesen?"
Ihre Mutter zuckte mit den Schultern.
"Meine Eltern waren nicht außergewöhnlich wohlhabend, das Grundstück war eine Erbschaft aus besseren Zeiten. Die Kartoffelfäule hat unsere Familie viel Geld und beinahe das Anwesen genommen."
Eileen fragte nicht mehr nach. Sie war müde und nach dem, was in den letzten Monaten passiert war, wollte sie im. Moment keine traurigen Geschichten über ihre Familie mehr hören. Sie ging hoch in ihr Zimmer und ließ sich auf das Bett fallen. Sie dachte an heute Nachmittag und schrieb Billie, ob alles in Ordnung bei ihr war, auch wenn es spät kam. Minuten später trudelte die Antwort ein. Billie hat ihr mit einem Foto von einem Blech mit Schokomuffin geantwortet. Jetzt ja, stand darunter. Eileen musste lachen und merkte da erst, wie sehr sie dieses Gefühl vermisst hatte.

Der Froschkönig (Märchenadaption)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt