Siebzehn

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Ihre Mutter stand in der Küche, als Eileen mit ihren Freunden durch die Tür stürmte.
"Begrüßt man die alten Leute heutzutage nicht mehr?", fragte sie amüsiert.
"Entschuldige, Mum, ich muss ganz dringend ein Foto sehen. Hast du die Alben schon eingeräumt?", erwiderte Eileen außer Atem von ihrem schnellen Gang.
"Nein, sind alle noch in der Kiste. Willst du deinen Gästen nichts zu trinken anbieten?"
"Ich brauche nichts, danke Mrs. Hughes.", antwortete Billie lächelnd.
"Oh, die Scheidung ist schon über die Bühne, Schätzchen. Ab jetzt bin ich wieder Miss Lear."
Eileen fuhr herum und starrte ihre Mutter an, genau wie Billie und Reed.
"Hab ich etwas Falsches gesagt?"
"Lear? Mum, dein Mädchenname ist Lear?", hakte Eileen nach.
"Ja... hab ich das nie erwähnt?"
"Nein! Das bedeutet..."
Sie widmete sich wieder der Kiste vor ihr und blätterte ein Album nach dem anderen durch, bis sie das Foto fand, nachdem sie gesucht hatte. 
Es zeigte ein kleines, aber liebevoll gestaltetes Haus. 
Und dahinter lag ein Feld mit Mohnblumen.
"Das Haus!", rief Eileen und zeigte ihrer Mutter das Foto. "Ist das Grandmas Haus?"
"Ja, aber Eileen..."
"Reed, schau dir das Bild an. Das ist es, oder?"
Reed und Billie sahen sich das Foto ebenfalls an. Billies Augen wurden groß hinter ihren Brillengläsern.
"Oh mein Gott... Fiona Lear war deine Großmutter... aber wie geht das?"
"Fiona war ihre Schwester.", hörte Eileen ihre Mutter sagen. "Meine Mutter hieß Felicity."
"Du hast gesagt, du weißt nicht, wie deine Tante heißt!", warf sie ihr vor.
"Denkst du vielleicht, ich weiß nicht, dass Heather hier noch herumgeistert? Das ist alles schon so lange her, Schatz."
"Also weißt du, was damals mit Fiona passiert ist?"
"Nein."
"Mum" Eileens Augen brannten. Sie sah ihre Mutter flehend an. "Bitte lüg mich nicht mehr an."
"Das ist die Wahrheit, Eileen. Ich weiß es nicht. Heather hat meiner Mutter die Schuld dafür gegeben, aber sie hatte nichts damit zu tun. Sie hat ihre Schwester über alles geliebt und ihr Leben lang um sie getrauert. Fiona war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Mehr weiß ich nicht."
"Weißt du etwas von einer Schwangerschaft?"
"Ein dummes Gerücht. Meine Mutter hat nie etwas davon erzählt."
Eileen nickte.
Darum hatte die alte Heather also gesagt, dass sie Fiona ähnlich sehen würde. Das damals spurlos verschwundene Mädchen war ihre Großtante.
Aber wie hing sie mit Cians Großvater zusammen?
Sie steckte das Foto ein und verließ die Küche.
"Eileen!"
Sie ignorierte ihre Mutter und rannte nach draußen.
Ihre Freunde hatten sie schnell eingeholt.
"Wow, das nenn ich mal ein Familiendrama.", meinte Reed.
Billie stieß ihm ihren Ellbogen in die Seite.
"Autsch! Das war nicht böse gemeint! Ich hätte nur nicht damit gerechnet, dass unsere kleine Lee-"
"Die Großnichte der besten Freundin von der verrückten Heather ist?", brummte Eileen. "Ja, ist nett, das zu wissen. Mum hat nie etwas über ihre Familie erzählt. Aber ich will wissen, was es mit Fiona auf sich hat."

Entschlossen ging sie zu dem Haus vor dem Mohnblumenfeld. Es war von einem Zaun umgeben, an dem ein zu-verkaufen-Schild hing.
Einen Moment lang stellte Eileen sich vor, ihre Familie hätte das Haus behalten.
Sie mochte das neue Haus und dieses wirkte schon mehr als baufällig. Es wäre viel Arbeit gewesen.
Aber Eileen fragte sich unwillkürlich, ob es diese Arbeit wert gewesen wäre. Andererseits hatte ihre Mutter viel mitmachen müssen, nur weil sie eine Lear war.
Vielleicht war es so das Beste.
Sie kletterte über den Zaun. 
Der Rasen war hoch und sie sah einige Bierflaschen und anderen Müll herumliegen. 
"Eileen, was machst du? Komm wieder raus."
Sie drehte sich zu Billie um, die sie flehend ansah.
"Ich will da drinnen nach etwas suchen, das mir hilft, etwas über meine Familie zu lernen.", erwiderte sie und stampfte zur Haustür.
"Hilf mir da rüber.", hörte sie Billie zu Reed sagen. 
Kurz darauf standen die beiden neben ihr.
"Ihr müsst das nicht machen.", sagte sie. "Vielleicht ist das Haus wirklich gefährlich."
"Dann lassen wir dich da erst recht nicht alleine reingehen. Ausreden können wir das wohl kaum.", antwortete Reed.
Gerührt sah Eileen die beiden an, eher sie sich wieder der Tür zuwandte. 
"Die ist bestimmt offen. Den Flaschen nach zu urteilen sind wir nicht die ersten hier.", meinte Billie. 
Eileen griff nach dem Türknauf und warf sich einmal fest dagegen.
Krachend gab das Holz nach und sie taumelte ins Innere.
Ein Dielenboden knarzte unter ihren Schritten.
Staub flimmerte in der Luft und ließ Eileen husten.
Natürlich gab es keine Möbel mehr, aber es überraschte sie dennoch, wie leer das Haus aussah.
Eine schmale Treppe führte vom Flur in das obere Stockwerk. 
"Denk gar nicht daran, die sieht erst recht nicht stabil aus.", warnte Billie hinter ihr.
"Gut, dann sehen wir uns hier um."
Sie folgte dem Flur bis zu einem großen Raum, der wohl einmal das Wohnzimmer gewesen war, und der Küche. 
Überall lag eine dicke Schmutzdecke, Spinnweben hingen in jeder Ecke. 
"Wonach suchen wir eigentlich?", fragte Reed.
"Irgendetwas, das aussieht, als würde es nicht zum Haus gehören."
Sie verteilten sich in den Räumen. 
Eileen entdeckte eine kleine Tür neben der Treppe. Wahrscheinlich führte sie zum Keller. 
Neugierig stieß sie sie auf und schaltete die Taschenlampe ihres Handys ein. 
Stufen aus Asphalt führten nach unten. Sie griff nach dem eisernen Geländer und betrat die Treppe. 
Der Asphalt unter ihr begann zu bröckeln und brach unter ihrer Sohle weg. 
Eileen verlor den Halt und rutschte nach vorne. 
Sie wurde an der Kapuze ihres Hoodies gepackt und so davon abgehalten, mit dem Kopf auf den Stiegen aufzuschlagen.
Einen Moment lang tanzten dunkle Punkte vor ihren Augen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. 
Jemand griff ihr unter die Arme und half ihr hoch.
"Danke.", sagte sie etwas außer Atem. 
Sie drehte sich um und wäre vor Schreck beinahe erneut ausgerutscht.
Cian stand vor ihr.
"Eileen? Alles in Ordnung?"
Billie und Reed kamen angelaufen. Auch sie starrten Cian wie einen Geist, den sie mit ihrem Betreten heraufbeschworen hatten.
"Was tut der denn hier?", knurrte Reed.
Billie verschränkte die Arme und musterte ihn misstrauisch.
"Ja, was machst du hier?", wiederholte Eileen leise.
Seine Augen leuchteten noch heller als sonst. Es machte ihr beinahe Angst.
Cian trat aus der Kellertür, damit sie von den Stufen wegkonnte. 
"Ich wollte zu deinem Haus, um mit dir zu reden. Deine Mutter war aufgelöst, weil sie geahnt hat, dass du etwas Dummes vorhast."
"Und da schickt sie dich als meinen Babysitter hinterher?", gab Eileen bissig zurück.
"Ich wäre auch ohne ihre Bitte gekommen.", antwortete Cian ruhig. "Warum seid ihr hier drin, das Haus ist baufällig."
"Das geht dich nichts an."
Eileen schob sich an ihm und ihren Freunden vorbei und flüchtete nach draußen.
Die frische Abendluft füllte ihre Lungen. 
"Eileen."
Cian war dicht hinter ihr.
"Können wir bitte reden?"
"Jetzt willst du plötzlich reden?"
"Es tut mir leid, dass ich einfach abgehauen bin, aber-"
"Lee, belästigt er dich?"
Billie und Reed holten zu den beiden auf. 
Cian beugte sich nach vorne. 
"Komm am Dienstagabend zum See.", hauchte er neben ihrem Ohr.
Sein warmer Atem kitzelte ihre Haut und ließ sie rot werden.
Seine Finger fanden kurz ihre und er drückte ihr etwas in die Hand.
Er schwang sich über den Zaun und stieg in den teuren Wagen, der dort parkte.
"Was wollte er?"
Ihre Freunde blickten sie abwartend an.
Eileen öffnete ihre zur Faust geballte Hand.
Ihre Kette lag darin.

Der Froschkönig (Märchenadaption)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt