Sieben

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Eileen zog ihre Strickjacke enger um sich. Die Luft wurde kühler, aber vom Herbst war kaum etwas zu spüren. Tagsüber waren es noch immer fast dreißig Grad im Schatten. Mit einem leicht mulmigen Gefühl lief sie durch die beinahe menschenleeren Straßen. Der Ort war wirklich nicht groß. Eileen erreichte eine Straße, die so gut wie nicht beleuchtet war. Als Kulisse für einen Horrorfilm wäre sie perfekt gewesen. Eileen erinnerte sich an eine Abkürzung zwischen zwei verlassenen Häusern, die Billie ihr beschrieben hatte. Die Häuser waren kaum zu übersehen. Sie lagen am Ende der Straße und glichen mehr Ruinen als einfach unbewohnten Gebäuden. Die Fenster waren alle eingeschlagen und die Stofffetzen der Vorhänge flatterten lose im Abendwind. Die schmale Gasse, die zwischen ihren efeubewachsenen Fassaden lag, war von hohem Gras gesäumt. Eileen bewegte sich im Laufschritt, möglichst ohne zu stolpern, und konnte durch die Lücke bereits die Straße, an der Billies Haus lag. Sie beschleunigte ihre Schritte noch ein kleines bisschen, als plötzlich eine Gestalt vortrat. Eileen stieß einen spitzen Schrei aus und taumelte rückwärts. Die Gestalt kam ungeniert auf sie zu. Im schwachen Licht erkannte Eileen die alte Frau, die sie beinahe mit dem Rad überfahren hätte.
"Du siehst aus wie Fiona.", sagte sie mit kratziger Stimme. "Du hast denselben Ausdruck in deinen hübschen Äuglein, mein Kind."
Die alte Frau brach in ein wirres Gelächter aus.
So viel zum Horrorfilm. Eileens Knie wurden weich und in ihren Adern schien plötzlich Eis statt Blut zu fließen. Trotzdem zwang sie sich, tief durchzuatmen.
"Wer ist Fiona?", fragte sie mit zittriger Stimme.
Die Frau legte den Kopf schief, als würden sie nicht dieselbe Sprache sprechen.
"Wer ist Fiona..." , wiederholte sie langsam, eher ihre Mundwinkel nach unten sanken. "Wer Fiona ist... Wer bist du, dass du dich erst jetzt blicken lässt! Lauf lieber, mein Kind. Ich kann deine Angst förmlich riechen. Du weißt nichts."
Eileen folgte ihren Worten. Sie sprintete an der Dame vorbei aus der Gasse und hielt erst vor Billies Haus an. Ihr Herz raste so schnell, dass sie dachte, es würde jeden Moment einen Notstopp einlegen. Zitternd betägtete sie die Klingel neben der Tür. Billie öffnete, aber ihr froher Gesichtsausdruck verschwand sofort.
"Mein Gott, Lee, was ist denn mit dir passiert? Hat dich ein Axtmörder verfolgt?"
"Sowas... Ähnliches...", keuchte Eileen immer noch außer Atem und ließ sich von Billie ins Haus, hinauf in ihr Zimmer ziehen.
Fachmännisch setzte Billie sie aufs Bett, legte ihr eine Decke um die Schultern, stellte einen Teller Cookies neben sie ab und ging kurz in die Küche, um ihr anschließend einen großen Becher Kakao zu reichen.
"Danke.", murmelte Eileen, während sie versuchte, sich aus dem dicken Stoff der Decke wieder zu befreien und einen Schluck zu nehmen, ohne den Kakao auf den Bettlaken zu schütten.
"Also, was ist passiert?", fragte Billie und nahm sich einen Cookie.
"Ich hab die Abkürzung genommen, die du mir gezeigt hast.", begann Eileen zu erzählen. "Auf einmal... war da so eine alte Frau, die... sie hat irgendein seltsames Zeug gebrabbelt. Sie hat mir vorgeworfen, dass ich nichts weiß. Ich hab sie schon mal getroffen und da hat sie wie jetzt etwas von einer Fiona gesagt. Und, dass ich ihr ähnlich sehen würde."
Billie schüttelte den Kopf und biss von ihrem Cookie ab.
"Das war sicher Heather. Sie ist sozusagen die verrückte alte Hexe hier. Als sie noch jung war, war ihre beste Freundin ein Mädchen namens Fiona Lear. Sie ist vor über fünfzig Jahren spurlos verschwunden. Entführt, hieß es lange Zeit. Aber es gab keine Lösegeldforderung. Zumindest erzählt man sich das. Heather geistert schon seit wir in den Windeln saßen durch die Straßen und murmelt den Namen ihrer verlorenen besten Freundin."
Eileen lief ein kalter Schauer über den Rücken. Die perfekte Schauergeschichte.
"Glaubst du, Fiona ist..."
"Tot?" Billie zuckte mit den Schultern. "Kann sein. Eine Leiche hat man nie gefunden. Aber die Familie war ohnehin etwas seltsam."
"Woher weißt du das alles?"
Billie grinste.
"Ich hab mal ein Geschichtsprojekt über unsere Stadt gemacht. Fiona Lear war das, was die Präsentation aufregend gemacht hat. Einigen sagen, sie wäre schwanger gewesen und wäre weggelaufen, weil es ein uneheliches Kind war, das die Familie nie akzeptiert hätte. Andere meinen, sie wäre bei einem Spaziergang von den Klippen gestürzt und ihre Überreste wären vom Meer davongetragen worden. Und wieder andere behaupten, sie wäre von einem Psychopathen entführt worden."
"Und was glaubst du?"
Billie nahm sich noch einen Keks und drehte ihn nachdenklich zwischen den Fingern.
"Ich hab damals bei der Recherche versucht, mit Heather zu reden. Sie hat nur ein Wort gesagt und das immer wieder. Verflucht."
Eileen schlang die Arme um sich. Billie bemerkte die Geste.
"Keine Sorge, wenn Fiona als Geist hier irgendwo herumspuken würde, hätte ich das längst gemerkt. Ich liebe Übernatürliches!"
Eileen beruhigte das nicht wirklich.

Der Froschkönig (Märchenadaption)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt