Von da an kam der Kronprinz regelmäßig, doch sein Verweilen war immer nur von kurzer Dauer, während der Tag der Heirat unbarmherzig näher rückte. Ihre Mutter war bereits aus dem Norden angereist, um dem Fest beizuwohnen, und die Burg wurde zu dem Anlass geschmückt.
Für Lanessa war diese Zeit unerträglich. Sie lebte einzig und allein für die Ausritte an die Furt, die sie regelmäßig unternahm. Ruppert hatte sie schon scherzend eine „Waldläuferin" geschimpft und die junge Prinzessin hatte einen Augenblick lang befürchtet, er würde ihr diese Ausflüge verbieten. Doch weder ihre Brüder noch ihr zukünftiger Gemahl ahnten, was der Anlass ihrer Ausritte war.
Kaum dass sie aus der Sicht der Burg entschwand, trieb sie ihrer Stute die Fersen in die Flanken. Nach dem Galopprennen auf der Ebene oberhalb von Kap Drachenstein kam ihr jedes der nordischen Pferde lahmend vor. Schweißnass kam ihre Stute schließlich an und Lanessa zog sie eilig in das Dickicht und lief dem bereits wartenden Tigran in die Arme. Sie küssten sich sehnlichst und hatten längst jegliche höfische Attitude abgelegt. In seinem Beisein konnte Lanessa ganz sie selbst sein. Ihr Name oder ihr Geburtsrecht waren nicht von Belang.
„Wenn ich Euch hier und jetzt sage", brachte Tigran zwischen den Küssen, die sie verlangte hindurch, „Ihr könntet Euch wünschen ... was mit Ruppert geschieht ... Was würdet Ihr antworten?"
„Ich würde nicht antworten", gab Lanessa atemlos zurück.
„Ihr müsst es nur aussprechen", fuhr er fort und hielt sie davon ab ihn erneut zu küssen. „Sprecht es aus und ich werde ihn in Ketten legen, ihn in ferne Länder verbannen oder auch töten, wenn Ihr es verlangt."
Lanessas Körper verkrampfte sich in seiner Umarmung und sie begann zu zittern. Seit der Verlobung mit Ruppert Hohenstein hatte sie sich bereits alles davon gewünscht. Nicht, weil sie Ruppert nicht gemocht hätte, sondern weil ihn zu ehelichen einer Heirat mit ihrem Bruder gleichkam. Ruppert war seit jeher im Hause Freveyier zugegen gewesen, er war zusammen mit Lamont in Hohenstein aufgewachsen und ausgebildet worden.
Doch war ihr Herz geschmolzen in der sengenden Sonne des Südens und das Drachenfeuer hatte jegliche Kälte aus ihrer Seele verbannt. Wie konnte ihr Vater sie nun nur an einen Nordmann geben?!
Lanessa war jung – sechzehn erst – sie wollte kämpfen, sie wollte reisen und die entlegensten Stellen der Welt besuchen. Sie wollte frei sein und letzten Endes wollte sie all dies an Tigrans Seite tun, so wie sie es sich vor wenigen Wochen erst ausgemalt hatte.
Doch für die Erfüllung jenes Wunsches konnte sie nicht sein Leben opfern.
Während ihr all dies durch Kopf schoss, drängte sich ein verblüffender Gedanke plötzlich in den Vordergrund und Lanessa war sich nicht sicher, ob sie Tigrans Worte richtig gedeutet hatte.
„Ihr würdet einen Krieg anzetteln", frage sie ungläubig, „wegen ... wegen einer Frau?"
„Für Euch", korrigierte Tigran Tejudis und zog sie näher an sich, „meine Krone bedeutet mir nichts. Was nützen einen alle Königreiche der Welt, wenn man niemanden hat, mit dem man sie teilen will?"
Seine Hand glitt durch ihre roten Locken, strich sanft über ihren Hals.
„Ich ... brauche keine Königreiche", flüsterte Lanessa. „Ich möchte nur Euch an meiner Seite."
Tigran sah sie aus ernsten Augen an, dann lächelte er und sagte leise: „So soll es geschehen!"
Und als er die flammendheißen Lippen auf die ihrigen senkte, war jedweder Gedanke vergessen.
❖ ❖ ❖
Ungeduldig sehnte Lanessa sich die erste Vollmondnacht herbei. Seit Tagen schon bewahrte sie die wichtigsten Habseligkeiten in einer Tasche unter dem Bett auf. Sie hatte einen Abschiedsbrief für ihre Eltern verfasst, in der sie um Vergebung bat und nicht zuletzt versuchte sie so viel Zeit wie möglich, mit ihren Brüdern zu verbringen.
Lanessa sorgte sich, je näher der Zeitpunkt anrückte, und das Schicksal war ihr scheinbar nicht gesonnen. Seit Tagen hing ein dichter Nebel über Hohenstein und fast täglich fiel Schnee. In jeder Nacht wurde es kälter und die Bauern holten bereits ihr Vieh in die Ställe.
Wider Erwarten war jedoch die erste Vollmondnacht so klar, dass Lanessa einzelne Sterne am Himmel erkennen konnte. Doch auch eisigkalt. Als der Glockenturm zwölf schlug, schlich sie sich hinaus. Ihr Atem kondensierte noch in der Luft und sie musste Acht geben, um nicht auf den gefrorenen Steinstufen auszurutschen, während sie zur Mauer hinaufging. Ängstlich sah sie sich immer wieder um und hoffte darauf, dass niemand sie sehen würde. Doch Hohenstein lag ruhig und friedlich dar und das sollte auch so bleiben.
Vor den Zinnen blieb sie stehen, lauschte und zog sich den Mantel enger um die Schultern. Sie begann zu zittern. Ob vor der Kälte oder vor Furcht wusste sie nicht.
Aufgeregt wartete sie. Wartete, bis sie schließlich ein Geräusch wahrnahm. Ein Geräusch, dass sie bereits auf dem Südturm in Drachenstein gehört hatte. Ihr Blick ging in den Himmel und sie erkannte, wie sich ein großer Schatten der Burgmauer näherte.
Lanessa hob die Arme in die Luft, um auf sich aufmerksam zu machen. Der Drache kam immer näher und als er die Mauer fast erreicht hatte, schlug ihr eiskalte Luft entgegen. Im Burghof wirbelten Stroh und Blätter umher.
Kratzend suchte Aeris halt am glatten Mauerwerk und ihre Flügelschläge verursachten tosenden Lärm in der Dunkelheit. Es war so laut, dass die Wachen auf sie aufmerksam wurden und Alarm schlugen. Dann – endlich – fand sie halt und warf prustend den Kopf umher.
„Schnell!", rief Tigran.
Lanessa lief über den vereisten Boden, doch im Hof fanden sich bereits die ersten Bogenschützen ein.
„DRACHE!" War das einzige Wort, dass sie zwischen den Rufen hören konnte.
Dann erfüllte das Surren von Pfeilen die Luft.
Lanessa schrie, rutschte auf den glatten Boden aus und stürzte.
„NICHT SCHIESSEN!", brüllte eine bekannte Stimme. „IHR TREFFT MEINE SCHWESTER!"
Doch sie trafen auch den Drachen. Aeris brüllte vor Schmerz und Zorn auf und hangelte sich flügelschlagend an der Mauer entlang. Ihr Kopf wandte sich den Angreifern zu, die Nüstern weiteten sich und ihr Brustkorb blähte sich auf. Einen Moment später war der Innenhof von Flammen erfüllt. Es war so heiß, dass Lanessa es zwischen den Zinnen hindurch spürte.
„Tut ihnen nichts!", rief sie Tigran verzweifelt zu.
Sie zwang sich wieder auf die Beine und lief auf den Drachen zu, der immer heftiger mit den Flügeln schlug, um die Balance zu halten. Sein Brüllen war ohrenbetäubend und unter ihrem massigen Körper brachen die Steine der Mauer weg und fielen in den Burggraben.
Die Alarmglocke wurde irgendwo geläutet und die Burg erwachte zum Leben. Eilig begann man damit die unzähligen Feuer zu löschen.
„SPANNEN!", ertönte es von unten.
Aeris machte einen Satz auf Lanessa zu, dass es sie fast zu Boden stieß. Haltsuchend riss der Drache weitere Zinnen ab, doch nun konnte sie auch den Kronprinzen auf dem Rücken des Reptils erkennen.
„Nehmt meine Hand!" Endlich war Tigran in greifbarer Nähe, doch Lanessa fürchtete, von den wankenden Bewegungen des Drachens zerquetscht zu werden. Sie zögerte, aber der Kronprinz reagierte geistesgegenwärtig.
„FEU-"
„HALT! NICHT SCHIESSEN! NICHT SCHIESSEN!" Es war Lamonts Stimme.
Tigran trieb Aeris nach vorne und bekam Lanessa am Handgelenk zu greifen und zog sie hoch. Sein Griff riss schmerzlich an ihrem Arm, aber sie fand Halt am Brustgeschirr und zog sich hinauf.
Aeris brüllte und warf sich von den Zinnen.
Beinahe wäre Lanessa über ihre Flanke gerutscht doch Tigran hielt sie fest und half ihr dabei richtig aufzusitzen. Noch während sie abhoben, schlang er ihr einen Gürtel um die Hüfte und sicherte sie. Zitternd sah Lanessa zurück. Rauch und Feuer verteilten sich im Innenhof und viele Menschen liefen umher. Doch nicht alle.
Sie konnte die schwarzen verkohlten Überreste einiger, durch den hellen Schein der Flammen, auch noch aus dieser Höhe erkennen. Schuldgefühle drückten ihr allmählich den Hals zu, Tränen vernebelten ihr die Sicht, doch dann schloss Tigran die Arme um sie und Lanessa war klar, es würde nun alles gut werden.
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Liebe geht ihren eigenen Weg
FantasyEs sollte eine Verbindung sein, die den Frieden zwischen den Reichen bringt. Doch alte Wunden heilen schlecht. Als Lanessa dem Kronprinzen Tigran - dem Drachenreiter - versprochen wurde, war es für sie nur eine Formalität. Man wusste von den Südländ...