Drachenfeuer

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Der Gedanke ließ Tigran allerdings nicht los. Mit jeder Botschaft und jeder weiteren schlechten Nachricht verschärfte sich ihre Lage. So wie er innerlich hin- und hergerissen, zwischen seinen Pflichten und dem Versprechen zu Lanessa gewesen war, so war er auch äußerlich. Unruhig lief er immer wieder durch die Tempel. Fand sich an Orten wieder, die er nicht bewusst betreten hatte und wurde von Lanessa ertappt, wenn er gedanklich abwesend war.

Jedes Mal, wenn er Urdin und Uwennya ansah, wurde er daran erinnert. Er konnte die Stimme seines Vaters förmlich im Geist hören. Was würde Tilon zu ihm sagen, wenn er von seinen Enkeln erfuhr, während sein Reich von Plünderung und Krieg überzogen wurde? War der Blick in ihre klaren, blauen Augen besänftigend genug, als dass er ihm diese Entscheidung verzeihen konnte?

Tigran kannte die Gerüchte über seinen Vater. Man munkelte, er habe die Tode seiner Erstgeborenen alle selbst herbeigeführt. Tigran und Tillianna waren, als erstes Zwillingspaar, die Einzigen gewesen, die überlebten und damit war dem Reich ein neuer Drachenreiter geboren worden. War es Skrupellosigkeit oder Pflichtbewusstsein, das Tilon Tejudis antrieb?

Gemeinsam hatten sie dem Süden immerhin Frieden gebracht, der ohne einen Drachen nie eingekehrt wäre.

Einen Frieden, den Tigran bedenkenlos geopfert hatte.

Was war er seinem Reich schuldig? Was war er den Menschen schuldig, die nun ihr Leben verloren?

Es war die letzte Botschaft, die die Entscheidung des Kronprinzen bekräftigte.

Zusammengesunken saß er im Hof des Tempels und sah auf das Pergament, dass man ihn vor einer Stunde gebracht hatte. Die Kühle der Nacht zog von dem Wald zum Tempel herauf. Nur die Feuerschale im kreisrunden Hof hielt die feuchte Luft etwas fern.

Als er bemerkte, wie Lanessa zu ihm trat, richtete er sich sogleich ein wenig auf und versuchte, sich seinen Kummer nicht anmerken zu lassen. Er musste stark bleiben – für sie beide.

„Was bedrückt Euch", fragte sie sachte.

Er hielt das Pergament in die Höhe und antwortete: „Die Nordländer haben unsere Länder erreicht. Plündernd und Brandschatzen ziehen sie gen Süden. Etliche Dörfer haben sie bereits überfallen."

Traurig richtete Lanessa ihren Blick zum Boden. Sie trug das gleiche Schuldgefühl mit sich, wie er. Tigran wusste davon.

„Einen Teil, könnten wir wieder gut machen, Lanessa", sagte er leise.

Fragend hob sie den Blick.

„Ohne einen Drachen ist der Krieg nicht zu gewinnen ..."

„Ihr habt es mir versprochen", warf sie sofort und mit bebender Stimme ein.

„Das habe ich", gestand Tigran ihr zu. „Aber können wir das auch rechtfertigen? Lanessa? Was gerade mit meinem Volk geschieht, das geschieht durch meine Vernarrtheit. Dabei habe ich einst geschworen das Reich und die Menschen darin zu beschützen. Was sage ich der Mutter, die ihren Sohn verlor ... oder dem Vater, dessen Tochter sie schändeten und umbrachten ..."

„Würdet Ihr stattdessen lieber Eure eigene Tochter verlieren?", fragte Lanessa mit zittriger Stimme.

Ihre Augen schwammen bereits in Tränen. Diese wunderschönen himmelfarbenen Augen, die er so sehr liebte. Deswegen sah er sie nicht an.

„Ein Leben gegen tausende", sagte er leise. „Ein Leben, das nicht verloren ist, sondern nach einem anderen Schicksal verläuft." Er sah ihre bebenden Lippen nicht, hörte nicht das Zerreißen ihres Herzens.

Tigran hatte nur seine Schuld im Sinn.

„Urdin wäre zum Drachenreiter geboren", fuhr er fort. „Das gäbe dem Land Sicherheit und würde unsere Linie stärken."

„Ihr habt es mir versprochen!", wiederholte Lanessa mit erstickter Stimme.

Tigran erhob sich und ging zu ihr herüber. Er berührte sie nur sachte, doch sie zuckte zurück.

„Ich sehe keinen anderen Ausweg", sagte Tigran ernst. „Ruppert Hohenstein steht bald mit einer mächtigen Streitmacht vor den Toren von Nahambra. Sie werden einer Belagerung nicht lange standhalten können. Lasst es ein paar Monate sein. Womöglich Zeit, genug für den Drachen zu wachsen und zu reifen. Doch allein seine Existenz würde mir die Loyalität unserer Truppen sichern, Lanessa. Eröffnet mir einen anderen Weg, wenn ich blind bin. Ich sehe ihn nicht!"

Seine Frau weinte nur. Weinte leise, doch es reichte, um ihm das Herz zu zerreißen. Darum wandte er sich von ihr ab, als er sagte: „Es tut mir leid. Doch meine Entscheidung ist gefallen."

Kraftlos sank sie auf den Boden und blieb weinend liegen. Der Feuerschein spiegelte sich in ihren feuchten Augen wider. Lanessa sah in die Flammen und es sollte das Letzte sein, an das sie sich erinnern konnte.


❖ ❖ ❖


Die Kinder weinten.

Rastlos lief Tigran durch den Tempel, um Lanessa zu suchen. Er rief sie beim Namen, aber sie antwortete nicht. Vermutlich war sie noch immer durch seine Worte gekränkt, doch niemals hätte sie Urdin und Uwennya hilflos zurückgelassen?

„Tigran Tejudis." Es sprach der oberste Klerus aus der Dunkelheit zu ihm.

Der Kronprinz wandte sich zu ihm um. Er saß in einer dunklen Nische vor einer der Götterstatuen, um zu beten. Der Duft von verbranntem Kraut zog langsam in seine Nase.

„Ihr solltet hinab in die Katakomben gehen. Die Götter haben Eure Gebete erhört."

Tigran zog die Brauen zusammen. Es war ihm wichtiger, dass er Lanessa fand. Die Kinder brauchten sie.

„Geht", sagte der Klerus eindringlich und wandte sich wieder der Statue zu.

Der Kronprinz sog die Luft ein, doch er nahm den Rat an. Vielleicht würde er unterwegs seine Gemahlin finden. Vielleicht gab es einen Grund, dass sie hinunterging.

Als er durch die großen Tore trat, hielt er einen Moment ungläubig inne. Im schwachen Licht der Feuerschalen konnte er eine Gestalt erkennen. Eine Gestalt, die einen riesigen Schatten an die Wand warf. Einen Schatten in der Form eines Drachens.

Einen Augenblick dachte Tigran, Aeris wäre ihm erschienen. Sein Herz klopfte vor Freude und er tat ein paar Schritte auf sie zu. Doch je näher er trat, desto sicherer war er, dass es nicht Aeris war. Die Schuppen waren viel dunkler, schimmerten kupferfarben und auch die Statur war anders. Aber er konnte es nicht glauben. Ein ausgewachsener Drache! Es konnte sich nur um Aeris handeln. Vielleicht hatten die Kleriker einen Weg gefunden, sie den Göttern zu entreißen?

„Aeris?", flüsterte er und trat vorsichtig näher.

Der Drache hob den schlanken Kopf und sah ihn aus wachen Augen an. Augen, so blau wie der Himmel und als sich ihre Blicke begegneten, verstand er plötzlich.

Ungläubig blieb er einen Augenblick lang stehen. Nicht fähig sich zu rühren. Nicht fähig den Gedanken zu Ende zu denken. Dann jedoch prasselten die Emotionen unaufhaltsam wie ein Funkenregen auf ihn nieder.

„NEIN!", krächzte er verzweifelt, „das ist nicht geschehen ...."

Er war nicht fähig weiter zu sprechen. Seine Welt lag auf einen Schlag in Trümmern. Alles, was er je besessen hatte, hatte er für das Zusammensein mit Lanessa geopfert. Seine Krone, seine Titel, seinen Besitz. Das alles war ihm egal gewesen, so lange er die Liebe dieser Frau hatte. Doch nun war auch der letzte Sinn in seinem Leben entschwunden.

Lanessa hatte eine Entscheidung getroffen und sie hatte sich für die Unversehrtheit ihrer Tochter entschieden.

Tigran fiel schluchzend auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit seinen Händen. Versuchte, den Schmerz und die Tränen zu verbergen. Doch das war unmöglich.

Der Drache rollte sich auseinander. Vorsichtig kam er näher heran und stupste ihn sachte mit der Nase an. Mitfühlend sah er ihn an und als Tigran die Augen wieder öffnete, brummte Lanessa leise. Zitternd berührte seine Hand ihre Schnauze und sie blinzelte langsam. Dann legte sie sich einfach neben ihm nieder und teilte sein Leid.

Liebe geht ihren eigenen WegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt