VII

84 7 4
                                    

"Vielen Dank, Randy.", bedankte mich, als der Agent mich aus dem schwarzen Mercedes aussteigen ließ. Er hatte direkt an der Grundstücksgrenze von Devins Grundstück gehalten, sodass ich nur noch ca. zehn Meter zu meiner kleinen Gartenhütte gehen musste. Mit bedächtigen Schritten legte ich diese Strecke zurück und öffnete das Vorhängeschloss vor meiner Hüttentür und betrat das kleine Gebäude.
Drinnen sah es noch genauso aus, wie ich es zurückgelassen hatte; mein Bett, welches quasi den gesamten Platz einnahm, ungemacht, an der Wand links neben der Türe, der Schreibtisch, der auch gleichzeitig mein Nachtisch war, direkt an der Wand gegenüber der Türe und die winzige Küchenzeile an der rechten Wand.
Meine wenigen Habseligkeiten waren alle in der kleine Kommode neben der Küchenzeile und daher schnell in den Koffer gepackt, den ich vor der Abreise in London von Randy bekommen hatte. Ebenso wie einen schwarzen Rucksack, mit einigen Notizheften, einem Handy, Kopfhörer, einem Mäppchen und dem Buch "Bodyguard - Die Geisel" wohl für die Beschäftigung auf der Zugfahrt.
Nachdenklich ließ ich mich auf mein Bett sinken und sah mich in meiner Hütte um. Ein gewisses, beklemmendes Gefühl setzte sich in meiner Magengegend fest und ich spürte, wie Tränen in mir aufstiegen. Das war mein Heim gewesen. Dreieinhalb Jahre lang. Dreieinhalb schwere Jahre. Und jetzt sollte ich alles von heute auf morgen stehen lassen.
Je länger ich mich hier umsah, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas hier nicht stimmte. Ich wandte mich zu meinem Nachttisch/Schreibtisch und wollte das Bild betrachten, welches dort immer stand und auch wirklich immer gestanden hatte. Es zeigte meine Eltern und mich einige Wochen vor ihrem Ableben. Doch es war nicht da.
Sofort sprang ich auf und suchte nach dem Bild. Schlussendlich fand ich es auf dem Boden. Der Rahmen war zerstört und das Glas zerschmettert, aber das Bild war Gott sei Dank noch heile. Ich musste kein ausgebildeter Agent sein, um zu verstehen, dass Devin meine Sachen durchwühlt hatte.
Schnell nahm ich das Bild und steckte es in meine Hosentasche, dann zog ich unter meinem Bett eine alte Metallbox hervor, in der ich mein gesamtes Ersparnis aufbewahrt hatte. Doch als ich den verbeulten Deckel von der Box hob, fand ich darin nichts. Devin hatte mein gesamtes Geld gestohlen. Es war nicht viel gewesen, höchstens sechzig Pfund oder so, aber es war mein Geld gewesen.
Wütend knallte ich die Box wieder zu und pfefferte den Rest meiner wenigen Sachen in den Koffer. Jetzt war ich mir sicher, dass es die Richtige Entscheidung gewesen war, zu John und Sherlock zu ziehen. Ich war noch nicht weg und wurde schon meiner Ersparnisse beraubt.
"Lass uns gehen!", grummelte ich, als ich knapp sieben Minuten später wieder neben Randy am Auto ankam.
"Haben Sie sich verabschiedet, Mrs Dundis? Sie werden hier vermutlich nie wieder hinkommen."
"Hoffen wir es. Und bitte, mein Name ist nun Watson."
Der breit gebaute Agent grinste. "Sie haben es verstanden, sehr gut. Dann los, lassen Sie uns gehen."

Die knapp anderthalb stündige Fahrt nach Northampton verlief weitestgehend schweigend.
Wir hörten Radio und Randy erzählte mir ein wenig von seiner Arbeit und zu meiner großen Verwunderung auch über Mr Holmes. Ich hatte erwartet, in der Behörde würden alle verklemmt sein, doch dem schien überhaupt nicht so. Und den Rest der Zeit überlegte ich, was ich gestern alles erlebt hatte.
Ich kam zu dem überraschenden Schluss, dass der Tag völlig normal und langweilig angefangen hatte, was mich doch irgendwie stutzen ließ. Ein so normaler Tag hatte eine so außergewöhnliche Wendung genommen. Welch Ironie.
Am Bahnhof angekommen wartete Randy noch mit mir am Gleis, bis mein Zug kam, dann verabschiedete ich mich von ihm und ging in meinen Abteil. Mit Musik von Queen, AC/DC und Metallica im Ohr fläzte ich mich auf meinen Sitz und begann die Akte durchzulesen, die Mr Holmes mir noch gegeben hatte. Es war eine sehr detailreiche Erzählung meines "bisherigen Lebens" und zwangsläufig fragte ich mich, welches arme Schwein gestern den ganzen Tag hatte schuften müssen, um sich das zu überlegen.
"Hi.", wurde ich plötzlich angesprochen und verwirrt zog ich den einen Kopfhörer aus meinem Ohr. "Ist hier noch ein Platz frei?"
Ich sah an der jungen Frau hoch, die in meinem Abteil Eingang stand. Sie war kaum älter als 25, hatte hüftlange, rote Haare und durchdringende, blaue Augen. Sie trug eine weinrote Bluse und eine schwarze Lederhose. Ihre Füße steckten in hohen Boots und sie war mir auf Anhieb etwas suspekt, auch wenn sie echt nicht schlecht aussah.
"Ja, klar.", antwortete ich und deutete auf die Plätze mir gegenüber. Sie setzte sich lächelnd und ich wollte mich gerade wieder in meine Akten lesen, da begann sie, sich mit mir zu unterhalten.
"Wo fährst du hin?", fragte sie und ich blickte wieder auf.
"Nach London, und du?", antwortete ich.
"Auch nach London.", sie lächelte. "Hast du dort ein Praktikum oder sowas?"
"Nein, ich fahre zu meinem Bruder.", antwortete ich, und seltsamerweise fühlte es sich nicht das kleinste Bisschen falsch an, so derbe zu lügen. Denn im Grunde, war es jetzt keine Lüge mehr.
"Oh, ach so. Entschuldigung wenn ich so aufdringlich wirke.", sie lachte verlegen. "Aber ich fahre das erste Mal nach London. Und das ist so aufregend."
Ich lachte leicht. "Ja, das verstehe ich.", schnell überlegte ich, ob ich schon einmal in London gewesen war. Oder besser, ob mein "neues Ich" schon einmal in London gewesen war, schließlich war ich dort eigentlich geboren worden. "Ich war bisher auch nur einmal dort. Damals, als mein Bruder das erste Mal in den Krieg gefahren ist."
"Dein Bruder ist also Soldat?"
"Ja, genau. Sowas in der Art."
Ich lächelte zwar, doch langsam fand ich diese Fragerei etwas auffällig. Warum interessierte es die Frau so brennend, wie es in meinem Leben aussah?
"Wie heißt du?", fragte ich nach einer Weile, da ich beschlossen hatte, zu gucken, was ich im Internet über diese Frau herausfinden konnte.
"Tessa. Tessa Nikleding.", sie streckte mir ihre Hand entgegen und ich beeilte mich, sie zu ergreifen. "Und du?"
"Lilith.", lächelte ich.
"Wie die Mutter der Dämonen."
Ich lachte leise. "Richtig. Oder die sumerische Gottheit des Windes, oder die Nachtdämonin. Mein Name hat viele Bedeutungen."
"Oho, du kennst dich also mit der Geschichte von Namen aus?"
"Nein, eigentlich nicht. Ich habe gestern nur noch ein Buch darüber gelesen.", das war nicht einmal eine Lüge - ich hatte in Mr Holmes' Bibliothek tatsächlich ein Buch über Namen gefunden, und den Eintrag zu meinem Namen gelesen. "Aber ansonsten kenne ich mich mit sowas wohl eher gar nicht aus."
Tessa lachte. "Nicht schlimm, ich auch nicht."
Ich lächelte und beschloss, dass es Zeit war, über belanglose Dinge zu sprechen und weniger Details über mich preiszugeben. Wie Mr Holmes schon gesagt hatte: Je weniger ein Fremder über mich wusste, desto weniger hatte er - oder in diesem Falle sie -, gegen mich in der Hand.

New Identity - Der Regenbogen fällt mit (Sherlock FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt