IX

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Wir saßen wieder in einem Taxi und fuhren wieder durch London.
Ich hatte noch nicht ganz begriffen, was genau wir jetzt taten. Genau genommen, hatte ich es noch gar nicht verstanden. John hatte zwar gesagt, es wäre selbsterklärend, doch bisher schien es alles andere als das.
"Lassen Sie uns hier bitte raus.", wies Sherlock den Fahrer plötzlich an und dieser bremste sofort das Fahrzeug. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren sprang Sherlock hinaus und lief los.
"Was ist denn mit dem passiert?", fragte ich verwirrt und wartete, bis John den Taxifahrer bezahlt hatte, ehe wir Sherlock in etwas gemäßigterem Tempo folgten.
John seufzte. "So ist er immer, wenn wir einen neuen Fall haben."
"Einen neuen Fall?"
Jetzt stand ich völlig auf dem Schlauch. Doch da erinnerte ich mich wieder daran, was John gestern im Büro von Mr Holmes gesagt hatte.
„Ahh. Das hat was mir Sherlocks Beruf zu tun, stimmt's? Ähm, Consulting Detectiv, oder sowas."
"Genau."
"Und was ist ein Consulting Detectiv?"
"Er hat es einmal erklärt mit den Worten: "Wenn die Polizei nicht weiter weiß, was immer ist, dann engagieren sie mich.", und ja, das trifft den Nagel tatsächlich ziemlich auf den Kopf. Wenn ein Fall zu kompliziert ist, dann ruft unser Kontaktmann und guter Freund Greg Lestrade bei uns an, und dann kommen wir und... naja, offiziell unterstützen wir die Ermittlung, inoffiziell löst Sherlock die meisten Rätsel alleine."
Ich kicherte. "Das wird hier ja immer cooler."
"Freu dich mal nicht zu früh. Sherlock löst diese Rätsel als Alternative zum high werden. Das ist oft ziemlich anstrengend."
"Keiner ist perfekt.", ich zuckte mit den Schultern. "Und ganz ehrlich, schlimmer als mit Devin kann es nicht werden."
In genau diesem Moment erreichten wir den Tatort. Innerhalb weniger Augenblicken machte ich mir ein Bild der Situation.
Auf dem Boden lag eine Leiche mit zerschmetterten Kopf in einer großen Blutlache, allerdings konnte ich weder das Geschlecht noch irgendetwas anderes bestimmen, da Polizisten überall umher liefen und mir ständig die Sicht verdeckten. Ich sah Sherlock, der neben der Leiche hockte und sich irgendetwas ansah, während er von einem Mann mittleren Alters mit grauen Haaren der irgendetwas erzählte, einer jungen Frau mit braunen Locken und einem anderen Mann mit zerzaustem Bart und fettigen Haaren betrachtet wurde.
"Es ist deine erste Leiche, wenn du also lieber etwas Abstand halten möchtest, verstehe ich das sehr gut.", sagte John und ich blickte ihn schockiert an.  
"Machst du Witze?! Das ist vielleicht das Spannendste, was ich je in meinem Leben gesehen habe, das lasse ich mir doch nicht entgehen!"
"Na gut, wenn du meinst.", er grinste. "Dann komm mal mit."
Er hob das Absperrungsband an und ließ mich hindurch treten. Mit klopfendem Herzen trat ich näher an die Leiche ran und mir stieg der Geruch von Blut in die Nase, was mich kurz ein wenig anwiderte. Doch ich rief konzentrierte mich einfach darauf, dass ich möglicherweise das größte Abenteuer meines Lebens direkt vor mir auf dem Boden liegen sehen konnte, und schluckte somit die Übelkeit herunter. Und je näher wir kamen, desto besser konnte ich hören, was der Mann mit den grauen Haaren sagte.
"...Nachbar, Henning Cortell von einer Wohnung unter seiner, hat den Mann gesehen, wie er aus dem Fenster im vierten Stock gesprungen ist und uns sofort angerufen. Er war wohl alleinstehend und hatte keine Kinder, weshalb wir von Glück sprechen können, dass er aus dem Fenster gesprungen ist, und sich nicht in der Wohnung abgemurkst hat, sonst hätten wir ihn erst in den nächsten Wochen gefunden. Und alte Leichen stinken immer so."
"Die Todesursache ist ziemlich offensichtlich das Schädel-Hirntrauma, was der Mann beim Aufprall erlitten hat.", fuhr der andere Mann fort, doch Sherlock schüttelte den Kopf.
"Hören Sie auf Lügen zu verbreiten, Anderson, und machen Sie Ihren Job besser. Der Mann wurde erschossen, das Trauma kam Post Mortem."
"Ach ja, und wie kommen Sie darauf?", zischte der Mann, der offenbar Anderson hieß.
"Es ist doch völlig offensichtlich. Hier drüben", Sherlock deutete grob in eine Richtung hinter sich. "liegt eine Patronenhülse, die der Schütze und Mörder hinter der Leiche hergeworfen hat, um alle Hinweise auf einen Mord aus der Wohnung verschwinden zu lassen. Außerdem hat der Kerl ein Loch im Kopf. Und ich weiß nicht, wie oft Sie sowas schon gesehen haben, aber für Gewöhnlich zersplittert ein Schädel nicht in einem exakten Kreis mit einem Durchmesser von 9mm."
"Na super!", murrte der Grau-Haar-Mann. "Jetzt haben wir einen Mord, hervorragend.", er drehte sich einmal um die eigene Achse und sein Blick fiel auf mich. "Wer ist das?"
Einen Moment starrten wir uns nur an, dann streckte ich ihm meine Hand entgegen und wollte mich gerade vorstellen, als Anderson lautstark pfiff. Sofort lief ich rot an und ließ den Blick sinken.
"Behalt die Augen bei dir, Anderson. Das ist Johns Schwester und ich bin der festen Überzeugung, wenn du sie weiterhin so anstarrst, dann hast du in den nächsten zwanzig Sekunden eine gebrochene Nase.", kommentierte Sherlock, ohne von der Leiche aufzusehen und ich wandte mich verlegen lächelnd an John, der tatsächlich aussah, als würde er jeden Moment auf Anderson losgehen.
"Ist schon gut, John. Du musst ihn nicht köpfen.", sagte ich ruhig und drehte mich wieder zum Grau-Haar-Mann. "Ähm, hi. Mein Name ist Lilith Watson und wie Sherlock bereits sagte, bin ich John's jüngere Schwester."
Der Grau-Haar-Mann lächelte freundlich und nahm meine Hand, die ich ihm wieder entgegen hielt.
"Detectiv Inspector Greg Lestrade, freut mich Sie kennen zu lernen, Miss Watson."
"Oh, bitte. Nennen Sie mich Lili oder Lilith, ich finde diese Förmlichkeit immer so... unnötig."
"Alles klar, Lili. Aber warum genau, wenn ich fragen darf, sind Sie hier?"
"Das kann ich Ihnen auch nicht genau beantworten. Wir kamen gerade zuhause an, da wollte Sherlock schon wieder los und meinte, er hätte einen neuen Fall.", ich zuckte mit den Schultern. "Und da mein Bruder mich nicht alleine lassen wollte, bin ich mitgekommen."
"Zivilisten dürfen nicht so ohne Weiteres an Tatorte.", meldete die Frau sich zu Worte. Ich drehte mich zu ihr und hielt auch ihr meine Hand entgegen.
"Wenn keine Zivilisten her dürfen, was machen dann Sherlock und John hier?", fragte ich lächelnd. "Mrs...?"
"Sergeant Sally Donovan. Und Sie haben Recht, der Freak und sein kleiner Freund dürfen hier auch nicht sein. Aber manche von uns", sie sah den Detectiv Inspector verächtlich an. "wollen das ja nicht akzeptieren.", dann blickte sie mich abwertend an und ich nahm meine Hand wieder zurück.
Ich wollte gerade etwas erwidern, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte, die mich schwungvoll herum drehte und im nächsten Augenblick stand ich Anderson sehr nah gegenüber.
"Hi, mein Name ist Philip Anderson.", er lächelte und starrte mich ganz seltsam an.
"Nett Sie kennen zu lernen, Mr Anderson.", sagte ich etwas gestellt lächelnd und trat einen Schritt von ihm weg. Ehe noch jemand etwas sagen konnte, hatte John Anderson plötzlich in den Schwitzkasten genommen und drückte ihm die Luft ab.
"Schau meine Schwester noch einmal so an, Anderson, und ich schwöre dir, dass du dich im Krankenhaus wiederfinden wirst. Sie ist sechzehn!", zischte er und ich musste das Grinsen unterdrücken, als ich Andersons geschockten Gesichtsausdruck sah.
"John, lass ihn los.", befahl der Detectiv Inspector etwas genervt und John ließ den inzwischen schon ganz roten Anderson los. "Anderson, hör auf Minderjährige zu belästigen und Sally, mach nicht so ein Theater. Sherlock hätte ihr nicht gestattet, her zu kommen, wenn sie sich nicht angemessen verhalten würde. Stimmt's, Sherlock?"
Alle wandten sich zu der Leiche, wo wir erwarteten, Sherlock zu sehen, doch dieser war schon wehenden Mantels in Richtung des Hauseingangs gegangen, aus dessen vierten Stockwerk der Tote wohl gefallen war.

New Identity - Der Regenbogen fällt mit (Sherlock FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt