Kapitel 16

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♠JJ♠

Ich bleibe noch eine Weile liegen und beobachte ihn. Er ist echt gut aussehend und vielleicht sollte ich sein Talent als Kumpel wirklich austesten. Was mich im Grunde am Meisten an der Idee schreckt mich von Mort und Lydia zu trennen ist die Angst vor dem Alleinsein. Ich war immer schon für mich selbst verantwortlich aber doch nie ganz allein. Mom war scheiße, aber sie war da. Ean war da, zumindest bis er Acht wurde, danach war er ... anders. Und Mort und Lydia waren auch immer da. Solange man nicht bei der Polizei landete oder sich vor der Arbeit drückte halfen sie, beschützten sie mich und meine Brüder und erklärten uns die Welt. Mit wenigstens einem neuen Partner wäre es leichter.

Ich dämmere etwas weg in einen leichten Schlaf bis mein Handy leise in der Jeans die neben mir auf dem Boden liegt vibriert und mich für meine Frühschicht weckt. Einen Augenblick genieße ich noch den Anblick eines schlafenden Nate und denke über ihn nach. Ob es ein 'uns' geben könnte?

Schließlich stehe ich auf, gönne mir eine kurze Dusche und ziehe mich wieder an. Auf dem Schreibtisch liegt die zweite Schlüsselkarte von seiner Ex, die stecke ich ein. Ein Schlüssel mit Zimmernummer ist hier so gut wie ein Ausweis. Ich klaue mir auch das getragene Hemd, natürlich nur aus Verkleidungszwecken und nicht weil es so gut nach Nate riecht. Dann schleiche ich mich aus dem Zimmer.

Ich husche in mein Versteck und sehe mich im Spiegel an. Auf den ersten Blick hat sich seit gestern nichts verändert und doch fühle ich mich schöner. Ich bin glücklich, wird mir klar. Aber ander glücklich als wenn ich einen großen Fisch an Land gezogen habe und Stolz mitschwingt. Auch anders als die glückliche Erleichterung nachdem ich knapp entkommen bin. Es ist eine innere Zufriedenheit die macht, dass ich einfach glücklich bin. "Heute ist ein Tag für Joy!"

So nenne ich meine innere Frau. Ungefähr 30 Minuten brauche ich mit meinem Schminkkasten und einem Spiegel um mich in sie zu verwandeln. Dann schlüpfe ich in das Sommerkleid, setze den Strohhut auf den ich erbeutet habe und lege sogar die Ohrringe an, die zu wenig Wert sind um sie zu verkaufen und zu unauffällig, um von ihrem echten Besitzer erkannt zu werden. Dann mache ich mich in ein paar flachen Damenpumps auf ins hiesige Restaurant um mir mit Nates Zimmernummer ein Frühstück zu organisieren.

Ich sitze bereits mit einem gefüllten Teller vom Frühstücksbuffet am Tisch und lasse mir von einer Kellnerin Kaffee bringen, als mir der Atem stockt. Gunnar ist hier. Er ist einer der Serviceleute und eilt mit einem Lächeln zwischen den Leuten, der Küche und dem Buffet hin und her. Würde er mich erkennen, wenn er mich sieht? Was würde er sagen? Zum Glück ist er für einen anderen Bereich eingeteilt und zu beschäftigt. Eigentlich wollte ich schon hier ein paar lange Finger machen, aber dass kann ich nicht. Nicht wenn das hier sein Platz ist und er womöglich den Ärger abbekommt. Nein, ich hab keine Angst davor erwischt zu werden oder dass er dann seine gute Meinung über mich verliert. Ich will ihm das nur einfach nicht antun.

Sobald ich satt bin gehe ich ins Sportzentrum. Da sind die Leute schon recht aktiv, und sei es damit, an der Bar herum zu sitzen, ihre Smoothies und Energy Drinks zu trinken und über andere zu lästern. Mit einer Handtasche, die mir in die Hände fällt, ist es leicht, das eine oder andere einzusammeln, aber irgendwie bin ich heute nicht in der Stimmung für den Job. Also mache ich mich auf zu unserem geheimen Briefkastenbaum. Wieder einmal passe ich scheinbar die richtige Zeit ab und kann unbeobachtet damit handeln.

Mort hat mir gestern Nacht noch eine Bestätigung geschickt mit der Info, dass er mir zum Dank für alles etwas schicken würde. Darauf konnte ich mir keinen Reim machen, daher fische ich jetzt den dicken braunen Umschlag daraus hervor und deponiere stattdessen meine neueste kleine Beute. Dann gehe ich zu den Pferdekoppeln und setze mich dort auf eine Bank um dem Treiben dort zuzusehen. Schließlich öffne ich den Umschlag und schaue hinein. Mehrere Dokumente, wie es aussieht und ein mit kleiner, gleichmäßiger Schrift gefülltes Blatt Papier. Ich ziehe es heraus. In meinem Hals bildet sich bereits ein Klumpen den ich versuche wegzuschlucken. Ich ahne bereits, was das zu bedeuten hat, schon bevor ich es lese.

Hey JJ,

leider wurde Jacob heute Morgen erwischt. Wir haben daher die Jungs eingesammelt und noch alle Briefkästen geleert bevor wir wieder aufgebrochen sind. Wenn du dies hier liest sind wir bereits weg.

Wir danken dir für all deine gute Arbeit. Du warst der beste Junge den wir je hatten und du hast uns unseren Teil des Deals immer leicht gemacht. Daher möchten wir dich nicht einfach so sitzen lassen.

Anbei findest du nicht nur deinen Ausweis und deine Geburtsurkunde, deine Zeugnisse und die Urkunde über deinen Schulabschluss, die vorgestern ankam. Lydia lässt ausrichten, dass du damit die Chance auf eine gute Ausbildung und sogar ein Stipendium fürs College hast. Sie sagt, wenn du ehrbar werden willst, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.

Falls du jedoch ein Gauner bleiben willst, dann findest du anbei auch die Telefonnummer von Onkel Thío. Egal wo du bist und was du loswerden willst, er kann dir einen vertrauenswürdigen Partner in deiner Nähe nennen.

Mach's gut Junge und halt dich von Jacob fern.

M.

Erst als die Worte vor meinen Augen verschwimmen und das Blatt feucht wird merke ich, dass ich weine. Unglaublich. Ich habe nicht an Pios Grab geweint. Ich habe nicht geweint als Leo mich bei Mort und Lydia abgesetzt hat und auch danach nicht, als mir klar wurde, dass ich keinen aus meiner Familie je wiedersehen würde. Ich habe auch für keinen einzigen Jungen geweint, den wir im Laufe der letzten zehn Jahre zurück gelassen haben. Wieso jetzt? Es ist nicht so, dass seine Worte besonders viel Schmerz bereiten oder Liebe erkennen lassen. Ich wusste längst, dass dies passieren muss, bald, also wieso Tränen?

Ich verschwinde in meinem Versteck und deponiere die Papiere in einem geheimen Fach in meinem Schminkkoffer. Zeit mein Outfit erneut zu ändern. Ich verwandle mich wieder in mich selbst und nehme den Shuttlebus nach Windington. Ich brauche ein neues Handy und eine eigene Karte und muss dass andere so entsorgen, dass es nicht mehr zu gebrauchen ist. Wie in Trance erledige ich diese Aufgaben, die sich über die Jahre in mir eingebrannt haben. Danach streife ich gedankenlos durch die Straßen ohne auch nur eine der tausend Möglichkeiten zu bemerken, die sich mir dabei bieten.

Als ich vor dem After School stehe wird mir klar, wo es mich hingezogen hat. Hier bin ich ganz ich selbst, gebe statt zu nehmen und werde ... geliebt. Meine Tränen sind längst versiegt und ich lache auf, als mir klar wird, dass es die Liebe der Kinder hier ist, die mich anzieht. Ich straffe meine Schultern und wische mir noch mal mit beiden Händen durchs Gesicht bevor ich die umgebaute Lagerhalle betrete.

Resort de la Pheya 10 - JJWo Geschichten leben. Entdecke jetzt