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Mich für Nate zu entscheiden war das Richtige oder nicht? Er mag mich wirklich, bedrängt mich nicht obwohl er sicher mehr gewohnt ist. Die Geduld, die er damit zeigt und die Aufmerksamkeit, mit der er meinen Erklärungen auf dem Jahrmarkt gelauscht hat, das alles zeigt doch, dass er für mich der perfekte Partner ist.
Am Abreisetag verließ ich sein Zimmer um meine Sachen zu holen und mir das Resort noch einmal anzusehen. Wohl wissend, dass ich vermutlich nicht wiederkommen würde. Als Gauner macht man keinen Urlaub. Jeder neue Ort hat nur neue Gelegenheiten zum Ziel. Selten besucht man ihn zweimal und nur wenn genug Zeit vergangen ist, so dass man neu anfangen kann. Aber dies ist Gunnars Ort. Seit ich das weiß fühlte es sich einfach nicht richtig an, hier weiter zu stehlen und nachdem Mort mich freigab, hatte ich auch nichts ungesetzliches mehr getan. Also nicht wirklich.
Ich setzte mich an einem der Laufwege auf eine Bank und schaute mir die morgendlichen Jogger an, ließ meinen Blick über die Wiese auf der anderen Seite des Pfades gleiten, über Vögel die im taufrischen Gras nach Würmern pickten und eine Gruppe Frühaufsteher, die in einer Ecke Yoga praktizierte. Meine Gedanken wanderten zu Gunnar, lieber, süßer, fürsorglicher Gunnar. Und wie er auf meinen Kuss reagiert hat.
Kann man zwei Menschen daran unterscheiden, wie sie sich küssen lassen? Wie sie auf einen Überfall dieser Art reagieren? Nate war überrascht aber auch begeistert. Es erregte ihn, er war bereit sich zu nehmen was ich zu geben bereit war und er ließ sich von diesem Gefühl treiben und riss mich mit. Das war leicht und locker und sorgenfrei und ... fast forward. Schnelles Vorspulen zum interessanten Teil. Es war heiß.
Gunnar? Das war anders. Ja, auch er war sexuell erregt, aber seine Lust übernahm nicht die Oberhand und er nahm nicht nur, er gab zurück, bot mir an so viel zu nehmen wie ich wollte. Er wandelte den Kuss nicht in Leidenschaft, hatte es nicht eilig. Er genoss ihn, drückte eher auf Pause und gab uns die Möglichkeit in diesem Gefühl zu versinken, darin zu schwelgen. Slowmotion. Er hatte etwas beruhigendes, fürsorgliches, mit dem Versprechen auf Beständigkeit und Sicherheit. Doch das bin nicht ich, ich bin flatterhaft, nicht so ernst sondern eher verspielt. Sein Traum ist ein guter, aber ich passe da nicht rein. Ich bin nicht gut genug für ihn und es gibt nichts, was ich in diese Beziehung einbringen könnte.
Alles was ich an diesem Morgen besaß war ein Koffer voller Schminke, ein Rucksack mit ein paar Unterhosen, zwei T-Shirts und einer Jeans und die Kleidung an meinem Leib. Und der Umschlag mit der Nachricht von Lydia, zusammen mit meinen Zeugnissen und einem Empfehlungsschreiben der Schule, bei der ich meine letzten Prüfungen abgelegt habe, für eine Bewerbung auf ein Stipendium, falls ich studieren will. Und von Mort, der neben einer Adresse auch den 100 Dollar Schein beigelegt hat, den ich unter Nates Augen aus dem Koffer geklaut habe, als Startkapital für meinen eigenen Weg.
Und dann, als ich da saß und nochmal über alles nachdachte, über die sichere Möglichkeit mit Nate mein eigenes kleines Vermögen aufzubauen und vielleicht irgendwann später sesshaft zu werden, oder mich sofort in ein neues, gesetzestreues und ungleich unsicheres Leben zu stürzen, passierte etwas kurioses. Eine weiche Nase stupste gegen meinen Kopf, den ich zu dem Zeitpunkt in meinen Händen vergraben hatte und kurz darauf erschien das Maul eines kleinen Ponys über meinen Schoß, um mir einen Apfel hineinfallen zu lassen. Ich sah auf und es kam näher, legte mir seinen Kopf auf meine Schulter und schnaubte. Ich musste lachen, schlang meine Arme um Checkers Hals und dann verwandelte sich mein Lachen in Tränen. Und ich begriff.
Ich erinnere mich mit einem Lächeln daran, wie ich dem Pferdchen überschwänglich dankte. Dieses Pony hat nie etwas von mir bekommen, im Gegenteil, im Grunde habe ich Checker ebenfalls beklaut. Und dann bot er mir einfach Hilfe an, ohne das Geringste dafür zu verlangen. Die letzten zehn Jahre habe ich gelernt, dass es nichts gibt ohne Gegenleistung. Vielleicht ist es Zeit, Hilfe zu suchen und anzunehmen, die man lediglich mit Dankbarkeit bezahlt. Deshalb stieg ich nicht in den Wagen zu Nate, beugte mich nur hinein und reichte ihm die Nummer von Onkel Tío und meine eigene.
"Es tut mir Leid, aber ich habe es mir anders überlegt. Lass uns heute Abend telefonieren, dann erkläre ich dir alles, okay?" Seine Enttäuschung war groß, aber er riß sich zusammen und nickte nur. Vor seinen Freunden konnten wir nicht offen sprechen, also beließen wir es dabei. Ich schlug die Tür zu und sah dem Wagen nach, bis er um die nächste Ecke verschwunden war. Dann ergriff ich mein Gepäck, straffte die Schultern und begab mich direkt zum Empfang des Resorts.
Paul war überrascht mich wiederzusehen und ich, weil er sich an mich erinnerte. Ich deutete auf ein Schild mit dem Titel "Angestellte gesucht, sprechen sie uns an" und fragte nach meinen Möglichkeiten. Zwei Stunden und ein interessantes Vorstellungsgespräch, mit den beiden Inhaberinnen des Resorts, später hatte ich einen Job als Springer, einen Einsatzplan ab nächste Woche und ein winziges Zimmer mit Bad im Angestelltentrakt. Ich verbrachte die Vormittage seitdem damit, mich in Windington offiziell anzumelden, ein Konto zu eröffnen und mich an den Computern der öffentlichen Bibliothek zu informieren, wie ich aus meinen ganz speziellen Talenten einen ehrbaren Beruf machen kann.
Natürlich fiel mein Augenmerk schnell auf Show, Entertainment und Theater, aber die Colleges dafür sind nicht in Windington und die Kurse zudem arschteuer. Ein kurzer Blick in die Möglichkeiten eines Stipendiums zeigten mir außerdem schnell, dass ein gutes Zeugnis alleine nicht ausreicht. Man erwartet entsprechende Nachweise über den bisherigen, künstlerischen Werdegang und obwohl ich vermutlich mehr Erfahrungen habe als jeder andere Bewerber kann ich die natürlich nicht erbringen. Deshalb habe ich mich im hiesigen Theater beworben und um einen Termin für ein Vorstellungsgespräch gebeten.
Die Nachmittage bin ich über das Gelände der Ferienanlage gelaufen und habe dabei geholfen, Müll einzusammeln und Geschirr, vor allem Gläser und Tassen, zusammenzutragen welches immer wieder mitgenommen und dann irgendwo stehen gelassen wird. Dabei habe ich bereits erste Pluspunkte gesammelt, weil ich mich so gut auskenne und auf fröhliche und beschwingte Art den Gästen, die danach fragten, den Weg gewiesen habe. Das hat mir keine Zeit gelassen ins After School zu gehen und auch Gunnar habe ich die ganze Zeit nicht gesehen, was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt wie riesig das Resort ist.
Am ersten Abend hatte ich dann ein langes Telefongespräch mit Nate, in dem ich ihm erklärt habe, dass ich mich wie er für einen neuen Lebensweg entschieden habe. Er war enttäuscht aber nicht übermäßig geknickt und schnell bereit, unser Telefonat für weiteren Wissensaustausch zu nutzen. Dabei erklärte ich ihm auch, dass Tío auf spanisch auch nur Onkel heißt und ein Deckname ist und was er im Umgang mit der Nummer und den Telefonaten zu beachten hat. Wir beendeten das Gespräch als Freunde. Ich riet ihm, sich nicht erwischen zu lassen und er mir, nicht aufzugeben. Er ist ein toller Kerl.
Heute habe ich dann den Rückruf des Theaters bekommen und einen Termin für heute Mittag. Sofort wusste ich, das könnte knapp werden. Leider haben Gunnar und ich keine Telefonnummern ausgetauscht. Eine von vielen Angewohnheiten eines Gauners, die ich lernen muß abzulegen. Ich bin noch ins Restaurant um zu sehen, ob er da ist, aber seine Kollegin meinte, er habe heute frei. Also konnte ich nur hoffen, rechtzeitig zurück zu sein. Eine Hoffnung, die sich leider zerschlug, weil das Vorstellungsgespräch ewig dauerte.
Ich war dankbar für die Chance und erklärte einfach, dass ich meine Erfahrungen auf Jahrmärkten gesammelt hatte, was nicht gelogen war, auch wenn es nur einem Teil der Wahrheit entsprach. Allerdings unterzogen sie mich einigen Tests um meine schauspielerischen und artistischen Fähigkeiten zu prüfen und meine Fähigkeiten in Sprache und Dialekten sowie im Lernen von komplizierten Texten. Dass sie sich soviel Zeit für mich nahmen zeigte mir ihr echtes Interesse und wie sehr ich sie beeindruckte, doch das alles dauerte ewig und dann fuhr mir der Shuttlebus auch noch vor der Nase weg.
Jetzt sitze ich im Nächsten und nähere mich endlich dem Resort, eine Stunde zu spät. Shit, Gunnar dürfte längst weg sein. Ich muß ihn unbedingt baldmöglichst im Restaurant abfangen und mich entschuldigen. Hoffentlich hört er mich an. wäre doch echt blöd, wenn mein neues Leben mit so einem Fehlschlag beginnen würde. Doch egal was passiert, ich mache es wie Nate. Ich habe diesen Weg für mich gewählt und nicht für Gunnar und ich werde ihn auch gehen, mit oder ohne ihn. Mit diesem Gedanken steige ich am Resort aus und marschiere über der Parkplatz.
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Resort de la Pheya 10 - JJ
Romansa🍀Buch 10🍀 An einem Scheideweg zu stehen ist schwierig und aufregend und für manch einen auch beängstigend. Nur dass der junge Gauner JJ keine Angst kennt. Das Leben ist ein aufregendes Spiel das er mit genug Intelligenz meistert, die ihm hilft die...