Kapitel 7

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„Und wie war es?" fragt mich Elly am nächsten Morgen. Sie ist gut gelaunt und stellt schwungvoll eine neue Flasche Wasser auf den Tisch. Neugierig guckt sie mich an.

Als ich gestern Abend von dem Treffen nach Hause gekommen bin, war ich zum Glück alleine. Denn wäre ich eine Sekunde länger unter Menschen gewesen, auch wenn ich sie kenne, hätte ich direkt noch mal einen Nervenzusammenbruch bekommen. Und das wäre nicht sehr schön geworden. Für die beiden nicht und für mich auch nicht.

Ausdruckslos starre ich vor mich hin, rühre in meiner Teetasse und gucke meine Schwester stumpf an. „Wie erwartet," antworte ich auf ihre Frage.

„Nicht so schön?" fragt sie und man kann die Enttäuschung deutlich raushören.

„Nicht so wie du es dir gewünscht hast," gebe ich zurück. Anfangs war es ja wirklich sehr schön.

„Was ist denn passiert?" fragt sie und legt den Kopf schief.

„Nichts worüber ich reden möchte," entgegne ich trocken. Ohne ein weiteres Wort stehe ich auf, kippe meinen Tee hinunter und gehe nach oben in mein Zimmer. Auf dem Weg kann ich noch hören, wie sie mir hinterherruft, ich solle warten, doch ich rufe nur, dass ich alleine sein will.

In meinem Zimmer angekommen setze ich mich an mein Fenster. Gestern Abend war ich zu müde und zu durcheinander, um mich noch länger mit den Sternen zu unterhalten. Vermutlich war das auch gut so. Der Schlaf hat gutgetan und geholfen, dass ich mich ein wenig beruhige. Die Panik ist verschwunden. Nun sitze ich da und denke nach. Ich denke darüber nach, wie ich mich am Montag wieder in der Schule blicken lassen soll. Es wird vermutlich sehr... seltsam, wenn ich Alya sehen und mit ihr in unserem Grüppchen sitzen werde. Aber vielleicht werde ich mich auch alleine bespaßen, so wie ich es immer getan habe. Ja, ich glaube so mache ich das. Ich habe mich mit den Jahren so sehr daran gewöhnt und mich in der Rolle der Einzelgängerin gut eingelebt. Und falls Alya sich so verhält wie ich es mit meinem logischen Denken erwarte, wird das eh von Nöten sein, weil sie mein Geheimnis verraten wird und dann hält mich sowieso jeder für eine Vollidiotin.

„Na, vergeigt?" höre ich eine altbekannte Stimme. Die Sonne schon wieder. Auf ihre Gesellschaft kann ich gut und gerne verzichten. Lieber heule ich mich bei der geduldigen Spica aus, hole mir einen schlauen Rat von dem ruhigen Sirius A oder lasse mich von dem gewitzten Polarstern ablenken. Aber die eitle Sonne kann ich gerade nicht wirklich gebrauchen.

„Was willst du?" schnauze ich sie unfreundlich an. Ihr Ton erinnert mich zu sehr an den meiner alten Klassenkameraden. Aber sie ist nicht aus meiner alten Klasse. Sie ist ein Stern und wird auch immer einer bleiben, bis sie stirbt. Und eigentlich sind Sterne doch nett.

„Du hast einige Dinge geradezubiegen, weißt du das?" fragt sie scharf.

„Erzähle mir was Neues," brumme ich vor mich hin.

„Wenn du das schon weißt, warum setzt du dich dann nicht hin und kümmerst dich um das was du verbockt hast?" blafft sie mich an.

„Weil es keinen Ausweg gibt," blaffe ich zurück. Sie versteht mich nicht. Aber womit habe ich gerechnet? Es ist die Sonne. Sie ist halt so. Wenigstens ist sie nicht so mürrisch wie Sirius B. Das Ding ist, gerade habe ich nicht wirklich die Energie für eine Auseinandersetzung mit ihr. Die Situation von gestern steckt mir noch etwas in den Knochen, auch wenn die Panik verschwunden ist.

Ein genervtes Seufzen von unserem nächsten Stern ist zu hören. „Du Dummkopf. Der Ausweg ist Kommunikation! Das weiß doch jeder Mensch in deinem Alter! Aber ich verstehe, darin bist du ja nicht so bewandert."

Nun werde ich tatsächlich wütend. Hat sie nichts besseres zu tun, als mich in dieser Situation runterzumachen? Als hätte ich dieses Chaos gewollt. „Was willst du damit jetzt bewirken?" frage ich kalt.

„Dich zur Vernunft bringen," erklärt die Sonne trocken.

„Wow," schnaube ich. Meine Arme schlinge ich um meine Beine und lehne mich an den Fensterrahmen. Wenn sie mich zur Vernunft bringen will, wie sie sagt, dann soll sie erst netter sein. Denn so kann ich ihr nicht abkaufen, dass sie mich nicht einfach nur am Boden sehen will. „Ich bin mal weg vom Fenster," murmele ich. Dann klettere ich vom Fenstersims hinunter und schließe das Fenster.

Was soll ich jetzt machen? Zu nichts habe ich Motivation. Und schon gar nicht will ich jetzt mit irgendwem reden. Ich will... alleine sein. Sonst habe ich mich immer ermahnen müssen, weil ich mich nach menschlichen Kontakten gesehnt habe, musste meine Gedanken kontrollieren, aber jetzt? Jetzt setze ich mich an meinen PC, schalte ihn an, setze Kopfhörer auf und genieße die Einsamkeit. Zum ersten mal in meinem Leben. Ich mache nichts. Ich sitze nur da, vor meinem ausgeschalteten Bildschirm und höre der Stille zu.

Mein Handy klingelt. Nachdem ich einen Blick auf das Display geworfen habe, erkenne ich, dass es Alya ist. Sie wird wollen, dass wir uns aussprechen, da bin ich mir sicher. Aber es gibt nichts auszusprechen. Ich habe mein Geheimnis verraten und werde nicht den Fehler nochmal machen, mich zu öffnen. Also drücke ich den Anruf weg.

Ein Teil von mir sagt, dass ich einen riesengroßen Fehler mache, indem ich all dem aus dem Weg gehe. Dieser Teil ist sehr leise, aber er ist da. Soll ich auf ihn hören? Auf keinen Fall. Es gibt keinen Ausweg, als es zu ignorieren. Irgendwann wird es sich sowieso im Sand verlaufen. Der Ausweg ist Kommunikation! Dieser Satz der Sonne hallt in meinem Kopf nach. Aber ich kann das nicht. Woher auch?

Da klopft es an der Tür. Oh nein, denke ich genervt, nehme die Kopfhörer ab und sage: „Jetzt nicht."

„Melanie, ich möchte aber mit dir reden," sagt die Stimme. Es ist Ben.

„Ich will aber mit niemandem reden," antworte ich trocken.

Jetzt geht meine Tür auf. Sonst hält sich Ben immer an meine Regel, dass er nicht reinkommt, wenn ich alleine sein will. Aber heute scheint er fest davon überzeugt zu sein, sich unbedingt einmischen zu müssen. Mit einem ruhigen, aber strengen Blick sieht er mich an. In diesem Blick liegt auch große Sorge. Er will mir helfen. Ich sollte ihm das nicht vorwerfen, immerhin bin ich seine Ziehtochter. Aber niemand kann mir helfen, eingeschlossen ich. Und Ben kann es auch nicht, auch wenn er das vielleicht gerne möchte.

„Was?" frage ich und sehe ihn mit einem stumpfen Gesichtsausdruck an.

Er sagt nichts, seufzt und setzt ich auf mein Bett. „Melanie, wir müssen reden," erklärt er. „Mir ist nicht entgangen, wie schlecht gelaunt du heute bist. Hat es mit gestern zu tun? Ist was passiert?"

„Es ist nichts passiert, worüber ich reden möchte," entgegne ich.

Mein Vater sieht mich traurig an. „Wenn du reden willst, bin ich für dich da." Mit den Worten steht er auf und geht aus meinem Zimmer.

Mein Blick richtet sich wieder auf meinen ausgeschalteten Bildschirm. Ben ist ein Mensch, der es nicht gerne sieht, wenn es Menschen nicht gut geht, die er schätzt. Es macht ihn zu einem sehr fürsorglichen Vater, aber dadurch fällt es ihm schwer, zu akzeptieren, wenn er mal nicht helfen kann.

Jetzt bin ich wieder alleine. Ich höre nur die Stille und meine Gedanken. Sie sind laut und tosen wie ein Fluss, in dem ich ertrinke. Aber ich will nicht ertrinken. Ich will leben. Irgendwann. Nicht jetzt. Aber irgendwann.


SternenflüsterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt