Kapitel 10

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Die kühle Nachtluft zerzaust mein Haar und ich bin froh darüber. Nichts ist besser als eine klare Sommernacht wie diese. Nachdenklich sitze ich auf der Fensterbank und schaue in die Sterne. Werden sie mit mir reden? Kurz werfe ich einen Blick auf meine Uhr an der Wand. Es ist eine Stunde vor Mitternacht. Morgen werde ich es sehr bereuen, jetzt noch wach zu sein. Aber es ist sehr notwendig. Im Moment ist es mir sowieso relativ egal, ob ich morgen komplett übermüdet in die Schule schlurfen werde.

„Gibt es ein Problem, Melanie?" höre ich eine Stimme. Es ist der Polarstern! So ein Glück. Er muntert mich immer auf mit seiner Art.

„Könnte man so sagen," antworte ich ihm. „Woher wusstest du das?" Dann fällt mir auf, was ich alles mit meiner Körpersprache aussage. Mein Gesichtsausdruck ist stumpf und zeigt Anzeichen von Traurigkeit. Dazu kommt, dass meine Haltung sehr lustlos aussieht. Okay, es war vielleicht nicht ganz so schwer zu erraten.

Polarstern gibt ein belustigtes Schnauben von sich. „Ich wusste es halt. Nun erzähl, was los ist."

Statt ihm alles zu erzählen, frage ich: „Ist Spica gerade ansprechbar?" Ich muss mit ihr reden und alles wieder in Ordnung bringen. Auf gar keinen Fall darf ich sie als eine Freundin verlieren. Ich brauche sie. Diese Freundschaft ist mir wichtig.

„Ja, allerdings ist sie nicht sehr gut gelaunt," warnt er mich. „Ich an deiner Stelle wäre sehr vorsichtig."

„Kannst du ihr bitte trotzdem sagen, dass ich mit ihr reden will?" frage ich angespannt. Ich habe Angst vor dem Gespräch mit Spica, aber es ist meiner Meinung nach sehr notwendig.

„Wenn du meinst," antwortet Polarstern. „Reden auf eigene Gefahr."

„Danke," rufe ich noch schnell.

Dann höre ich schon die traurige Stimme von Spica. Sie spricht ohne Vorwürfe, aber hört sich sehr traurig an: „Was gibt es, Melanie?"

Ich fixiere meinen Blick auf meine Zehenspitzen. Leise sage ich: „Tut mir leid, dass ich ein Arsch zu dir war." Es tut mir wirklich leid. Das alles wollte ich nicht. Jetzt kann ich nur hoffen, dass sie nicht nachtragend ist. Damit rechnen tue ich nicht, aber man sollte sich mental auf alles vorbereiten.

„Dass du manchmal etwas ruppig bist, sind wir alle gewohnt und wissen, dass du das nicht böse meinst. Was mich genau gestört hat ist, dass du mir dann nicht mehr zuhören wolltest. Mit der Frage, was du falsch gemacht hast, wollte ich einen Gedankengang bei dir anstoßen, sodass du vielleicht selber herausfindest, was in deiner Situation das beste ist. Allerdings hast du dich schneller angegriffen gefühlt, als ich erwartet hatte. Schneller als es bei sozialer Interaktion sinnvoll ist. Und dann hast du gar nicht mehr mit mir reden wollen, auch wenn es dir vielleicht geholfen hätte, zu verstehen was ich meine."

Ich schweige nur. Für mich gibt es gerade nichts zu sagen. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich leise sein und zuhören muss. Wo ich versuchen sollte, von Spica zu lernen.

„Aber es scheint, als wäre das alles nicht umsonst gewesen. Du scheinst dazugelernt zu haben," bemerkt sie.

Verwirrt schaue ich auf. Sie hat von meiner Krise doch nichts mitbekommen oder? Obwohl. Sterne sind ja auch tagsüber da, auch wenn man da nur die Sonne sieht. Da kann ich am Tag zwar nicht mit den Sternen reden, sie mich aber beobachten. Hat Spica mich beobachtet? Aber sie hat nur gesehen, was ich gemacht habe. Nicht, was in meinem Kopf vorging.

„Warum schaust du so verwirrt? Deine Reaktion auf das was ich eben gesagt habe, wäre gestern anders gewesen," meint sie. Ich glaube, wäre sie ein Mensch, würde sie jetzt belustigt schmunzeln.

Ach darauf wollte sie hinaus! Gut. das scheinen wir geklärt zu haben. Jetzt muss ich ihr aber unbedingt von meinen Gedanken erzählen. Vielleicht ist sie sogar stolz auf mich, dass sich bei mir was tut. Auch wenn mir das ganze ziemlich Angst macht. „Es verändert sich sehr viel in letzter Zeit und heute auch," murmele ich. Dann denke ich nach. Ich habe noch gar nicht überlegt, wie ich das alles in Worte fassen soll! Okay, das wird jetzt eine ziemliche Herausforderung, schätze ich.

„Worauf genau willst du hinaus?" fragt der bläuliche Stern.

„Hast du mich heute in der Stadt gesehen?" frage ich.

„Natürlich habe ich das! Du hast sehr... überfordert und panisch gewirkt," meint sie.

Nun ziehe ich einen Mundwinkel nach oben und erzähle: „Das trifft es tatsächlich ziemlich gut. Ich weiß zwar nicht, was die Veränderung ausgelöst hat, aber alles war anders. Es war, als wären die Menschen anders. Als würde ich alles aus einem anderen Blickwinkel sehen. Mir sind so viele andere Dinge aufgefallen, die ich nie wahrgenommen habe."

„Was für andere Dinge?" fragt Spica. Sie klingt sehr interessiert und nun wieder gut gelaunt.

„Das Verhalten der Menschen... die Freundlichkeit des Verkäufers ist mir heute aufgefallen, ich habe einen Mann gesehen, der an der Straße einem Obdachlosen ein Brot gegeben hat, einen Jungen im Rollstuhl, der aber nicht gewirkt hat, als würde er seltsam gefunden werden, obwohl er anders ist, als ich in eine Frau reingerannt bin, hat sie mir hochgeholfen, zwei Kinder an der Eisdiele haben sich geholfen, weil das eine anscheinend nicht genügend Geld hatte. Das sind Dinge, die mir heute hängengeblieben sind. Spica... was passiert mit mir?! Das bin doch nicht ich oder?" Zum Ende hin merke ich, wie meine Stimme wieder sehr panisch klingt.

Doch Spica wirkt sehr gelassen als sie sagt: „Es ist doch alles so wie es sein soll. Dir ist nie aufgefallen, dass Menschen nett sein können, außer Ben und Elly. Und das war nicht gut. So ist es aber gut. Natürlich gibt es auch nicht so nette Menschen auf der Welt, aber nicht nur. Du hattest es nur nie wahrgenommen, nicht verinnerlicht. Alles was du zehn Jahre lang gesehen hattest, war deine Klasse in der Grundschule, wie sie dich ausgelacht haben. Es ist verständlich, dass du da auf andere geschlossen hast, aber keine gesunde Verhaltensweise."

„Der Junge neben der Frau, in die ich reingerannt bin, sah sehr genervt aus und viele Menschen sind an dem Obdachlosen vorbeigegangen," erzähle ich. „Das ist mir auch aufgefallen, aber zum ersten Mal sind mir auch die anderen Menschen aufgefallen. Seltsam oder?"

„Es ist nicht seltsam, es ist alles so wie es sein soll. Weißt du was ich glaube? Ich glaube, dass Alya einen sehr positiven Einfluss auf dich hatte," meint sie.

„Vielleicht..." murmele ich. Dann fällt mir was ein: „Warum sagst du mir jetzt erst, dass meine Verhaltensweise ungesund war? Das hättest du mir ruhig früher sagen können, als ich noch keinen Mist gebaut habe."

„Hättest du es denn hören wollen?" fragt Spica und nun hat ihr Ton etwas Prüfendes an sich.

Ein paar Sekunden denke ich nach, dann antworte ich geknickt: „Vermutlich nicht."

„Ich bin froh, dass du so ehrlich mit mir bist, Melanie," sagt Spica. „Und nun Kopf hoch. Du kannst stolz auf dich sein. Du hast heute eine lebensverändernde Erkenntnis gemacht. Lebensverändernd im positivsten Sinne."

„Aber ich bin nicht das geringste bisschen stolz auf mich. Um das zu lernen musste ich erst Alya verletzen und dann dich. Das ist nichts worauf ich stolz sein will," antworte ich. Mein Kopf ist voll von Alya. Die erste potentielle Freundschaft seit der Grundschule und ich habe versagt. Ich habe es vermasselt mit meinem scheiß Misstrauen. Ist sie sauer auf mich? Wird sie je wieder mit mir reden wollen?

„Darauf musst du jetzt nicht unbedingt stolz sein, aber du kannst darauf stolz sein, dass du das richtige Mindset entwickelt hast, um das alles geradezubiegen. Schau, wir haben doch schon die Schwierigkeiten zwischen uns geklärt, jetzt ist Alya dran," ermutigt mich Spica.

Sterne sind wohl doch menschlicher als ich dachte. Dass mir das erst jetzt vollständig in den Sinn kommt! Es ist mir nicht einmal in den Sinn gekommen, dass ich die Schwierigkeiten mit Spica mit denen mit Alya vergleichen kann. Diese Unterhaltung mit Spica kann ich als eine Art Übungsdurchlauf sehen. Um zu üben, wie ich mich verhalten muss, wenn ich mit Alya rede. Zum ersten Mal in dieser Woche habe ich Hoffnung. Hoffnung, dass alles gut wird, dass es nicht zu spät ist.

„Spica?" frage ich und auf meinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus.

„Ja?" kommt die Antwort.

„Ich bin froh, die Welt nun mit anderen Augen sehen zu können. Manchmal muss man richtig auf die Fresse fliegen, um etwas zu kapieren, so wie ich. Es ist immer noch sehr ungewohnt und beängstigend, aber ich bin trotzdem irgendwie froh über die Veränderung."

„Das freut mich zu hören," antwortet Spica erfreut. „Aber nun geh schlafen. Morgen wirst du deine Nerven brauchen."

SternenflüsterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt