Kapitel 11

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Um sechs Uhr klingelt mein Wecker und reißt mich aus meinem Schlaf. Langsam bereue ich es, gestern so lange noch mit Spica geredet zu haben, aber es war nötig. Gähnend schließe ich das Fenster, das ich die Nacht über offen hatte. Praktisch, dass es direkt über meinem Bett ist und ich dazu nicht mal aufstehen muss.

Apropos Aufstehen, das wäre trotzdem nötig. Immerhin ist heute Schule. Leider. Aber vielleicht gelingt es mir, Alya abzufangen und mit ihr zu reden. Und heute haben wir als erste beiden Stunden Kunst, wie jeden Mittwoch. Eigentlich mag ich Kunst. Kunst und Physik. Vielleicht wird der Tag doch nicht so schlimm.

Auf dem Weg nach unten in die Küche höre ich schon Elly und Ben, wie sie sich unterhalten. Anscheinend ist meine Schwester schon wach, entgegen meiner Erwartungen. Sonst lässt sie sich immer reichlich Zeit.

Oder ich habe mir heute noch reichlicher Zeit gelassen als sie. Nachdem ich mich aus meinem Bett geschält habe, stand ich eine Weile in meinem Zimmer und habe die blauen Wände angestarrt. Ob ich nachgedacht oder getagträumt habe, kann ich nicht sagen. wahrscheinlich beides. Es tauchten wieder die Szenen in meinem Kopf auf, wie ich Alya angeschrien habe, wie sie zurückgezuckt ist. Die Szene, wie wir alle am Feuer saßen und das Leben gefeiert haben. Und dann kamen Szenen, die nie dagewesen waren. In einer ist Polarstern zum Menschen geworden um mir besser Gesellschaft leisten und mich aufmuntern zu können. In einer weiteren habe ich Alya gesehen, wie sie geweint hat. Da war ich mir unsicher, ob ich sie trösten soll, oder ob ich es noch schlimmer machen würde. Das alles hat mir einen Stich ins Herz versetzt. Denn ich habe zwar die Woche auch Zeit mit unserer kleinen Gruppe verbracht, aber mich nicht mehr wohl gefühlt.

Als ich die Küche betrete, hört Elly mitten im Satz auf und guckt mich an. „Wow, du sahst auch mal besser aus. Alles gut?", fragt sie.

„Hab wenig geschlafen," brumme ich und setze mich an den Tisch um mir mein Brot für die Schule zu schmieren.

Ben seufzt und ermahnt mich: „Du musst zusehen, dass du gerade in Wochentagen nicht zu lange mit den Sternen redest. Sonst bist du am nächsten Tag doch gar nicht mehr zu gebrauchen."

„War nötig," antworte ich, während ich mir die Butter schnappe. „Außerdem werde ich schon wach." In der Theorie hat er Recht, denn ich muss wirklich zusehen, dass ich genug schlafe. Aber gestern ging es wirklich nicht anders.

„Achte einfach in Zukunft darauf," meint er und füllt Wasser in seine Trinkflasche.

Ich nicke nur als Antwort und stopfe mein Brot in eine Brotdose. Momentan schwirren mir andere Gedanken durch den Kopf als mein ungesunder Schlafrhythmus. Immerhin habe ich heute was wichtiges geradezubiegen. Etwas sehr wichtiges.

Darum kümmere ich mich auch direkt, als ich die Schule betrete. Alya ist bereits da, als ich ankomme und Zeit ist auch noch bis zum Unterricht. Ungefähr eine Viertelstunde. Auf direktem Wege gehe ich zu Alyas Sitzplatz und gucke sie an.

Irgendwann guckt sie zurück und legt fragend den Kopf schief. Sie sieht traurig aus und dieser traurige Blick versetzt mir einen Stich ins Herz.

„Wir müssen reden," sage ich leise, aus Sorge, dass jemand lauscht. „Draußen. Alleine."

Bevor sie antworten kann, stelle ich meine Schultasche an meinen Platz und verlasse den Klassenraum. Vor der Tür warte ich.

Es dauert auch nicht lange und Alya folgt mir nach draußen. Ich habe einen Ort im Gebäude gewählt, wo nicht so viele Menschen vorbeikommen. Es ist ein Stückchen weg vom Klassenraum, aber dafür ungestört. An die Wand gelehnt denke ich noch mal kurz darüber nach, was ich sagen will. Alles was ich mir an Worten zurechtgelegt habe, fühlt sich plötzlich so unpassend an. Doch ich versuche, keine Angst zu haben. Wenn ich jetzt wieder Panik bekomme, kann ich gleich alles in die Tonne drücken.

Kurz hebe ich den Blick. Alya sieht mich an und wartet. Doch sie scheint nicht ungeduldig. Trotzdem sollte ich sie nicht zu lange warten lassen.

„Es tut mir leid," quetsche ich hervor.

Ruhig, aber ohne sonstige Emotionen fragt Alya: „Was genau tut dir leid?"

Mein Herz zieht sich etwas zusammen. Warum weiß ich nicht, doch so gefasst wie möglich antworte ich: „Alles. Alles was ich gemacht habe. Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe, es tut mir leid, dass ich dich ignoriert habe. Ich hatte... Angst. Und kein Vertrauen zu dir."

Alya sagt nichts. Sie hat den Blick nun auf den Boden gesenkt und nickt nur. „Danke. Ich bin froh, dass du das sagst," meint sie doch ihr Blick strahlt Unsicherheit aus.

Ihre Haltung lässt sie klein wirken und das verunsichert mich nun auch. „Also... sind wir dann wieder befreundet?" frage ich dennoch mit einem Funken Hoffnung.

„Mal gucken. Erstmal brauche ich etwas Zeit und Abstand, um darüber nachzudenken, was los war und was aktuell los ist," antwortet sie. „Denn zur Zeit habe ich einiges, worüber ich nachdenken muss."

Bei diesen Worten breitet sich Angst in mir aus. Ob ich versagt habe? Was wenn sie für immer von mir Abstand braucht? Diese Vorstellung passt mir gar nicht in den Kram. „Ich vermisse dich," murmele ich leise.

Nun guckt sie wieder hoch. Ihr Blick ist verunsichert. „Ich hoffe, du hast Zeit, bis ich meine Antwort auf deine Frage kenne."

„Die werde ich bestimmt haben," versichere ich ihr eifrig, auch wenn ich einen leicht verzweifelten Ton in meiner Stimme bemerke. „Versprochen."

„Danke," sagt Alya und ein leichtes Lächeln zeigt sich auf ihrem schmalen Gesicht. „Bis dann. Irgendwann. Bald." Mit diesen Worten wendet sie sich ab. Als sie durch einen Lichtstrahl geht, beginnt die weiße Musterung auf ihrem roten T-Shirt hell zu leuchten, wie unzählige Sterne. Dann erlischt das Licht, als sie um die Ecke geht, zum Klassenzimmer zurück.

Wieder lehne ich mich an die pissgelbe Wand. Meine Augen sind zu. Das hilft mir, wenn ich mich sammeln muss. Ich darf jetzt auf keinen Fall Schwäche zeigen. Heute in der Pause werde ich auch nicht bei meiner Gruppe sitzen. Vermutlich wird am Ende alles so bleiben wie es vorher war. Wieder werde ich der einsame Wolf sein ohne menschliche Freunde, die die immer alleine ist, die Außenseiterin.

Auf einmal schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: Egal was ich mache, am Ende nimmt es sich nicht viel. Wenn ich sage, dass ich mit den Sternen rede und mit ihnen befreundet bin, bin ich eine Außenseiterin, weil das ja nicht normal ist. Wenn ich es verheimliche und mit niemandem rede, um auf Nummer Sicher zu gehen, bin ich auch eine Außenseiterin, weil mich niemand richtig kennt. Es nimmt sich nicht nur nicht viel, es nimmt sich gar nichts. Am Ende kommt es immer auf dasselbe raus.

Ich wünschte, ich hätte mit Alya über die Sterne reden können. Ich wünschte, ich hätte ihr erzählt warum ich sie ignoriert habe und was vor zehn Jahren passiert ist, warum ich so bin wie ich bin. Vielleicht würde ich ihr dann einiges an Denkarbeit abnehmen können, falls sie über mich nachdenkt. Na ja, wahrscheinlich hat sie wichtigeres zu tun, ich bin nur ein Schatten, den sie kaum kennt. Aber sie ist einer der wenigen Menschen, von denen ich das Gefühl habe, gekannt werden zu wollen, obwohl ich wie ein Schatten bin. Ob ich trotzdem ein halbwegs interessanter und liebenswerter Mensch bin? Wenn ja, dann wäre das sehr interessant und würde mein Weltbild noch ein Stück weiter umkrempeln. Es ist eine Veränderung. Eine große Veränderung. Es ist irgendwie beunruhigend und ungewohnt, aber ich glaube, es ist dringend nötig.

Wieder etwas selbstbewusster hebe ich mein Kinn. Ich werde hart arbeiten, das ist ein Versprechen, das ich an mich abgebe. Mein Weltbild, mein Menschenbild besonders und mein Bild von mir selber werde ich gründlich überarbeiten, am besten hole ich mir Hilfe. Von den Sternen, aber vielleicht auch von einem Menschen. Fragt sich nur wer. Vielleicht jemand aus der Gruppe? Ich könnte Janin oder Jay nach Schulschluss fragen oder meinen Vater. Was ist es für ein Privileg, Menschen zu haben, an die man sich wenden kann!


SternenflüsterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt