Kapitel 3

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LUCÍA

Normalerweise ging mir Mirabels ungestüme Art auf die Nerven, weil sie so verdammt neugierig war, aber dieses Mal störte es mich nicht ganz so sehr. Ich wollte zwar nicht, dass sie mein Geheimnis herausfand, aber sie wollte ja einfach nicht aufgeben, also hatte ich wohl keine andere Wahl, als sie zu mir nach Hause einzuladen. Sie zog mich jetzt den Flur hinab zum Klassenzimmer, wo sie sich prompt neben mich setzte. Eigentlich saß ich immer alleine an einem Tisch, aber es störte mich auch nicht wirklich, jetzt eine Sitznachbarin zu haben. Mirabel könnte vielleicht wirklich meine Freundin werden und vielleicht konnte ich ihr dann auch mein Geheimnis anvertrauen. Dann wäre ich damit wenigstens nicht mehr ganz alleine und da sie sich ja mit Magie auskannte, konnte sie mir unter Umständen ja auch helfen, diese ganzen Geheimnisse in meinem Leben zu lüften. Obwohl Mirabel selbst als Einzige in ihrer Familie keine Gabe bekommen hatte (außer ihrem kleinen Cousin, aber dessen Zeremonie stand auch noch aus), war sie ein sehr fröhliches und aufgewecktes Mädchen, das stets zu helfen versuchte. Es wäre also nicht ausgeschlossen, dass sie auch mir mal helfen könnte. Aber im Moment wusste ich nicht, ob ich ihr das alles schon anvertrauen konnte, also versuchte ich noch ein wenig die Distanz zu wahren. Vielleicht war Mirabels Neugier ja auch bereits der Versuch, mir zu helfen und ich konnte es nur nicht richtig einordnen. Das war auch sehr gut möglich. Ich nahm meine Bücher aus der Tasche, als Mirabel mir in die Seite stieß.
"Hey, darf ich dich mal etwas fragen?", fragte sie neugierig nach, ich nickte.
"Ja, was denn?", erwiderte ich, obwohl ich um ehrlich zu sein etwas Angst vor ihrer Frage hatte.
"Wieso trägst du immer Handschuhe? Sind die nicht verdammt warm?", fragte sie neugierig nach, worauf ich auf meine blauen Handschuhe sah. Ja, die Handschuhe. Ich wollte sie nicht tragen, aber meine Mutter meinte, dass es besser war. Damit konnten meine Kräfte nicht einfach so ausbrechen, denn wenn ich nervös wurde, konnte ich sie nicht immer kontrollieren. Diese Handschuhe waren also reiner Schutz, aber das konnte ich Mirabel nicht sagen.
"Meine Mutter will, dass ich sie trage. Sie sagt, dass eine junge Señora sich so anzuziehen hat", log ich schnell und sah auf mein Heft. "Und so warm sind sie gar nicht."
"Darf ich mal?", fragte Mirabel neugierig und zeigte auf meine Handschuhe. "Ich nähe selber gern und viel, ich kenne mich mit Stoff aus. Und deine Handschuhe sehen sehr dick aus, vielleicht kann ich dir dünnere machen." Ich nickte zögerlich und zog mir unsicher den Handschuh aus. Sofort begann ich zu schwitzen, denn nur ein falscher Gedanke würde reichen, damit jeder sehen konnte, dass ich zaubern konnte und das durfte ich nicht zulassen. Mirabel nahm mir den Handschuh ab, während ich meine freie Hand im Stoff meines Kleides vergrub. Das neugierige Mädchen strich über den Stoff und zog ihn sich ebenfalls vorsichtig über die Finger, bevor sie mich ansah. "Der Stoff ist echt weich und total kühl. Die Dinger sind wirklich toll, woher hast du sie?"
"Meine Mutter hat sie mir gemacht, als ich fünf war", antwortete ich ihr. "Also, nicht genau die, sondern Kleinere, aber es war ihre Anleitung. Ich habe mir selber immer wieder Neue genäht." Wieder strich Mirabel über den Stoff und lächelte mich an.
"Das kannst du echt gut", sagte sie dann. "Wollen wir nicht vielleicht mal zusammen etwas nähen?" Ich nickte.
"Gerne, wieso nicht? Meine Mutter möchte ohnehin, dass ich besser darin werde", stimmte ich schnell zu.
"Besser? Du bist verdammt gut darin! Du musst gar nicht besser werden!", wandte sie begeistert ein und gab mir meinen Handschuh zurück. "Es ist fast, als hättest du eine Gabe!"

Nach der Schule verabschiedete ich mich von Mirabel und schlug den Weg zum Wald ein. Es hatte Spaß gemacht, mich mit Mirabel zu unterhalten und tatsächlich hatten wir eine Menge Gemeinsamkeiten. Ich hatte anscheinend endlich eine Freundin gefunden. Wieso hatte ich mich nur so lange dagegen gesträubt mit Mirabel zu reden? Ich hatte einen großen Fehler gemacht! Beflügelt von meiner neuen (und auch ersten) Freundschaft, schlug ich den Weg in den Wald ein und zog mir endlich die Handschuhe aus. Hier im Wald beobachtete mich keiner, also nutzte ich meine Nachmittage dafür, mich hier mit meiner Gabe auszuprobieren. So riskierte ich auch nicht, dass sie plötzlich durchbrach. Hier und in meinem Zimmer waren die einzigen Orte, an denen ich ungestört alles ausprobieren konnte, was ich wollte. Ungeduldig lief ich bis zu der kleinen Lichtung am Fluss, der auch heute wieder rosa schimmerte. Das lag an den vielen Blüten, die im Fluss trieben und die ich auch gerne beobachtete. Dieser Fluss war an sich etwas sehr Besonderes für mich. Ich hatte das Gefühl, als würde meine Magie hier besonders stark sein und es zog mich immer wieder hierher. Ich wusste, dass hier Pedro Madrigal, der Abuelo von Mirabel, gestorben war und sie daraufhin ihr magisches Wunder erhalten hatten. War hier vielleicht auch etwas mit meinem Vater passiert? Hatte ich deswegen auch magische Kräfte? Kam ich deswegen immer wieder hierher? Zog es mich deshalb immer wieder an den Fluss? Ich wusste es nicht und auch als ich Mamá danach gefragt hatte, hatte sie mir keine Antwort gegeben. Aber es musste etwas mit diesem Fluss zu tun haben, da war ich mir sehr sicher. Ich streckte meine Hand aus und drehte die Handfläche nach oben, worauf ein paar Schneeflocken aufstiegen, aber aufgrund der Hitze sofort wieder schmolzen. Es war hier einfach zu heiß, um wirklich Schnee haben zu können. Das machte aber nichts, ich hatte trotzdem Spaß mit meiner Gabe. Als Kind hatte ich mir ständig Schlösser aus Eis gebaut oder kleine Fantasiewelten erschaffen, mit denen ich dann im Schnee in meinem Zimmer gespielt hatte, aber aus diesem Alter war ich raus. Jetzt ließ ich die Magie einfach durch mich fließen und genoss die Kühle, die davon ausging. Ich sah auf den Fluss hinunter, drehte meine Hand und ließ einige Schneeflocken in den Fluss rieseln.
"Für dich, Papá. Wer und wo auch immer du bist."

Lucía - Suche nach der Wahrheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt