Kapitel 11

50 4 0
                                    

BRUNO

Ich war etwas nervös, als Lucía mich voller Tatendrang aus meinem Zimmer zog. Ich war seit zehn Jahren nicht mehr draußen gewesen und hatte Angst, dass meine Familie mich entdecken konnte, aber es war bereits so spät, dass keiner mehr wach war und Lucía mich die Treppe hinunter zog. Ich stolperte unsicher, aber auch neugierig hinter ihr her, während ich versuchte einen Blick auf ihre Tür zu erhaschen, aber so schnell wie sie mich zur Haustür zog, konnte ich nicht mal rausfinden, wo ihre Tür überhaupt war. Schnellen Schrittes zog sie mich nach draußen und dann in den Wald.
"Lucía, was machen wir im Wald?", fragte ich verwirrt nach. "Wieso zeigst du mir nicht einfach dein Zimmer?" Sie drehte sich zu mir um und lächelte mich an.
"Weil wir hier mehr Platz haben", antwortete sie nur. "Vertrau mir bitte, ja?" Ich seufzte und nickte.
"Ja, natürlich", stimmte ich schnell zu. "Ich muss nur bis zum Sonnenaufgang zurück sein, sonst sieht mich meine Familie."
"Das kriegen wir hin", beruhigte sie mich und blieb schließlich am Fluss stehen, an dem Papá gestorben war. Was wollte sie hier? Sie ließ meine Hand los und sah mich an. "Ich bin immer hierher gekommen, wenn ich nachdenken wollte. Ich hab sehr lange nach dir gesucht und wenn ich Rat gebraucht habe, bin ich hierher gekommen und habe mit dem Fluss gesprochen, als sei er mein Vater." Sie lächelte mich an. "Aber jetzt muss ich das nicht mehr."
"Nein, natürlich nicht! Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn etwas ist!", beeilte ich mich zu sagen. "Ich verstehe nur noch nicht, was das jetzt mit deiner Gabe zu tun hat."
"Ich zeige es dir, Papá", sagte sie und als sie mich so nannte, musste ich unwillkürlich lächeln. Ich hatte schon immer Kinder gewollt und liebte es, Zeit mit ihnen zu verbringen, aber leider hatte es sich nie ergeben. Ich wollte jeden Tag mit meiner Tochter nun genießen und ich konnte es kaum abwarten, alle möglichen Sachen mit ihr zu erleben. So hatte ich wenigstens einen Teil meiner Familie wieder. Lucía ging auf den Fluss zu und hob ihr Kleid leicht an, bevor sie einen Fuß auf das Wasser setzte. Dieses gefror sofort zu Eis und als Lucía weiterging, war der Fluss innerhalb von Sekunden mit einer dicken Eisschicht überzogen. Ich sah meine Tochter erstaunt an. Sie konnte mit Eis zaubern. Das war wirklich erstaunlich.
"Wow, das ist... der Wahnsinn", sagte ich und sah Lucía an, die nun in der Mitte des Flusses stand.
"Komm ruhig her, Papá. Das Eis trägt dich", forderte sie mich auf, also machte ich einen vorsichtigen Schritt auf das Eis zu. Nervös setzte ich meinen Fuß auf die Eisschicht, die aber nicht einmal ein Knacken von sich gab, als ich mich mit meinem vollen Gewicht darauf lehnte. Das war der Wahnsinn! Ich ging zu Lucía.
"Das ist wirklich magisch!", staunte ich begeistert.
"Ja, und ich kann nicht nur das", erwiderte sie und streckte ihre Hand aus, sodass einige Schneeflocken daraus aufstiegen. Elegant bewegte sie ihre Hände, sodass die Schneeflocken um uns herum tanzten. In einem winzigen Wirbel tanzten die Flocken vor uns auf und ab, bevor sich eine kleine Statue bildete, die Lucía und mich zeigte. Das war noch unglaublicher als die Sache mit dem Eis! "Ich kann alles aus Schnee und Eis bauen, was ich mir vorstelle. Ich habe mir am Berg gestern auch ein kleines Schloss gebaut, als meine Mutter mich aus dem Haus geworfen hat." Ein Schloss?
"Du hast dir ein Schloss gebaut?", fragte ich ungläubig nach, sie nickte.
"Ja, hab ich. Ich kann bauen, was immer ich will!", antwortete sie begeistert und nahm die kleine Haarspange aus ihrem Haar, die ebenfalls die Form einer Schneeflocke hatte. "Auch die hier hab ich gemacht. Ich will, dass sie nimmst." Sie gab sie mir in die Hand, worauf ich unsicher darauf hinuntersah.
"Wirklich? Wieso?", fragte ich verwirrt nach.
"Weil du mein Vater bist und wir uns wahrscheinlich nur nachts sehen können. Ich will einfach, dass du sie hast", antwortete sie mir. Ich lächelte sie an und umarmte sie, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben.
"Du kannst immer zu mir kommen, hija. Auch tagsüber, wenn etwas sein sollte", sagte ich leise und ließ sie langsam wieder los. "Du bist meine Tochter und ich will jederzeit für dich da sein, ganz egal, was los ist." Sie lächelte mich an.
"Das freut mich, Papá. Ich werde dich jeden Tag besuchen kommen, versprochen. Du bist schließlich mein letzter Elternteil, meine Mutter will mich ohnehin nicht mehr wiedersehen", erwiderte sie und lehnte sich an meine Brust, worauf ich sie in den Arm nahm. Ich konnte spüren, wie traurig sie das machte, mir ging es schließlich genauso mit meiner Mutter. Sie wollte mich auch nie wieder sehen und ich konnte verstehen, dass sie das fertig machte. Ich spürte, dass sie zu weinen begann und ihre heißen Tränen auf meinen Poncho tropften. Ich drückte sie an mich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, während ich ihr beruhigend über den Rücken strich.
"Das hat sie so sicher nicht gemeint, mi vida", versuchte ich sie zu beruhigen. "Aber ich verstehe, wie du dich fühlst. Mach dir keine Sorgen, ich werde dich nie verstoßen oder verlassen. Ich bleibe bei dir, ja? Und wir kriegen das zusammen schon hin." Sie nickte und löste sich langsam von mir, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen.
"Danke, Papá", murmelte sie und strich sich eine lose Strähne zurück.
"Aber natürlich, amor", beruhigte ich sie und drückte sie wieder an mich. "Wir schaffen das zusammen schon, versprochen. Und wenn etwas ist, kommst du sofort zu mir, ja? Dann finden wir sicherlich eine Lösung, da bin ich mir sicher." Sie nickte.
"Ja, danke", murmelte sie und erwiderte meine Umarmung. "Sollen wir dann zurückgehen? Die Sonne wird bald aufgehen." Ich nickte und ließ sie los.
"Ja, das wäre wahrscheinlich klug", stimmte ich zu, also gingen wir zurück zum Ufer. Sie bewegte ihre Hände auf sich zu und das Eis und die Statue verschwanden, als hätte es sie nie gegeben. Ich lächelte sie an und nahm ihre Hand. Sie erwiderte mein Lächeln und zusammen traten wir den Heimweg an.

Lucía - Suche nach der Wahrheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt