Kapitel 17

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LUCÍA

"Donde se unen viento y mar, un río lleva mil memorias que hay. Duerman bien y ya en calma esten, pues él conserva lo que fue." Als ich wieder zu mir kam, glaubte ich, die Engel zu hören, die mir dieses alte Schlaflied vorsangen. Mamá hatte es mir als Kind oft vorgesungen, wenn ich nicht hatte schlafen können, aber diese Stimme gehörte nicht Mamá. Sie war dunkler, aber auch sehr viel angenehmer. Ich schien wohl wirklich bei den Engeln angekommen zu sein. Ich wollte die Augen öffnen, aber sie gehorchten mir nicht richtig und ich drehte stattdessen den Kopf. Ich fühlte mich erschöpft und ausgelaugt und wollte am liebsten nur noch schlafen. Ich spürte eine Hand auf meinen Kopf, die mir immer wieder durch die Haare strich. Konnte man Engel spüren? Versuchten die Engel mich zu wecken? Aber wieso sollten sie mir dann ein Schlaflied vorsingen? Ich wollte nachsehen, aber auch dieses Mal ließen meine Augen nicht zu, dass ich sie öffnete. Meine Augenlider fühlten sich zu schwer an, um sie zu heben, also gab ich es wieder auf und lauschte der Stimme einfach weiter und lehnte mich in die sanften Streicheleinheiten. Erst jetzt bemerkte ich etwas Warmes, Kuschliges, das auf mir lag und wie sehr mir mein Körper wehtat. Besonders mein Hals fühlte sich schrecklich an. Sollten im Himmel nicht alle Schmerzen weg sein? Irgendetwas war hier seltsam. Obwohl meine Lider viel zu schwer waren, kratzte ich meine letzte Kraft zusammen und öffnete die Augen. Papá saß neben mir und strich mir durch die Haare, während er das alte Schlaflied leise vor sich hin sang. Papá war hier? Ich hatte also überlebt. Nur wie? Der Eiszapfen hatte doch getroffen, oder etwa nicht? Ich sah Papá an und wollte etwas sagen, aber mein Hals war trocken und ich brachte nicht mehr als ein Krächzen hervor. Das reichte aber vollkommen aus. Papá sah mich ebenfalls an und lächelte dann glücklich.
"Mi vida, dios mío! Du lebst!", rief er glücklich und umarmte mich. Ich wollte ihn ebenfalls umarmen, aber meine Arme spielten nicht mit, also ließ ich mich einfach tief in seine Umarmung fallen und vergrub meinen Kopf an seiner Brust. "Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht! Tu das nie wieder, hörst du? Es kann nicht sein, dass du dich umbringen wolltest! Ein Glück hatte Julieta rechtzeitig ein paar Arepas da!" Ich sah ihn an und nickte schwerfällig. Ich wollte nach Mamá fragen, doch als ich den Mund öffnete, kam nur wieder ein Krächzen hervor. Ich versuchte mein bestes, um irgendetwas in die Richtung von Mamá zu sagen, aber mein Gebrumme war so unverständlich, dass selbst ich nicht verstand, was für beinahe schon tierische Laute das sein sollten. Papá sah sich im Zimmer um, das, wie ich jetzt bemerkte, sein Zimmer war und stand dann auf. Aus einem alten Regal holte er eine kleine Schreibtafel und ein Stück Kreide hervor. "Hier, probier mal zu schreiben. Vielleicht geht das besser als reden, du solltest deinen Hals sowieso noch eine ganze Weile schonen, amor." Ich nickte und nahm die Tafel schwerfällig mit zitternden Händen entgegen. Anscheinend war mein Körper noch nicht ganz auf der Höhe, aber das nahm ich ihm kaum krumm. Ich hatte versucht mich umzubringen und hatte überlebt. Da war es vollkommen in Ordnung, wenn mein Körper noch ein paar Faxen machte. Ich versuchte "Mamá" zu schreiben, aber auch das war so krakelig, dass man es kaum lesen konnte. Selbst ein Erstklässler hätte das schöner geschrieben! Aber Papá schien zu erkennen, was ich meinte, denn er nickte.
"Maria ist in deinem Zimmer. Sie war die ganze Zeit über hier, war aber so müde, dass ich ihr gesagt habe, dass sie sich hinlegen soll. Es geht ihr gut, keine Sorge. Julieta konnte sie mit einer Arepa und einer Decke wieder komplett heilen", erklärte er mir. "Es geht ihr wirklich gut, du musst dir keine Sorgen machen. Und sie bereut zutiefst, was sie getan hat. Glaub mir, als sie dich gesehen hat, hat sie ununterbrochen geweint." Ich nickte nur, obwohl ich kaum glauben konnte, dass Mamá so etwas getan hatte. Sie schien ihre Taten wohl wirklich zu bereuen. Ich wischte das Wort "Mamá" mit dem Arm weg und schrieb (oder eher kritzelte) ein neues Wort an dessen Stelle.
"Aussprache?" Papá sah mich an und ich nickte. "Ob Maria und ich uns ausgesprochen haben? Ja, das haben wir. Wir haben die Missverständnisse in unserer Jugend geklärt und wollen jetzt beide voll und ganz für dich da sein. Du kannst dir auch aussuchen, wo du wohnen möchtest. Aber zusammenkommen werden deine Mutter und ich nicht mehr, tut mir leid. Dafür ist einfach schon zu viel passiert." Ich nickte. Das hatte ich mir beinahe schon gedacht. Aber ich wollte auch gar nicht, dass sie zusammenkamen. Das würde nicht gutgehen, das wusste ich einfach. Ich war aber trotzdem froh, dass sich alle Streitigkeiten geklärt hatten. Und dafür hatte es nur meinen Fast-Tod gebraucht! Diese Familie war wirklich kompliziert. Na ja, ich war ja auch nicht weniger kompliziert. Papá lächelte mich an und gab mir einen Kuss auf die Stirn. "Ruh dich noch ein wenig aus, ja? Es wird alles gut, versprochen. Und ich bleibe bei dir und passe auf dich auf. Ich liebe dich, amor. Du bist das wichtigste, das ich habe."

Eine Woche später war alles wieder einigermaßen normal. Zwar hatte ich manchmal immer noch Schmerzen beim Sprechen, aber es ging mir schon wesentlich besser. Ich ging auch wieder zur Schule und wechselte jede Woche meinen Wohnort. In der einen Woche war ich bei Papá und in der anderen bei Mamá. Papá hatte eine Menge zu erklären gehabt, aber mittlerweile hatte sich alles einigermaßen eingependelt. Und auch in der Schule hatte sich einiges verändert. Ich konnte mittlerweile mit meiner Gabe sehr gut und frei umgehen und alle anderen fanden sie auch sehr cool. Endlich schämte ich mich nicht mehr dafür und konnte so frei wie nie leben. Mehr hatte ich mein ganzes Leben über nicht gewollt! Und Papá war der Schlüssel dazu gewesen. Ich war unendlich froh, ihn kennen gelernt zu haben und ihn jetzt für immer bei mir zu haben - genauso wie den Rest der Familie. Mirabel war zu meiner besten Freundin geworden und auch die anderen waren wirklich nett. Besonders mit Camilo hatte ich eine Menge Spaß und wir verbrachten oft Zeit im Dorf, um den Leuten dort Streiche zu spielen. Zum ersten Mal hatte ich Spaß in meinem Leben und musste keine Angst vor den Konsequenzen haben. Ich liebte dieses neue Leben! Hoffentlich blieb es für immer so! Ich wollte meine neue Familie nie mehr verlassen! Ich liebte sie über alles! Und sie liebten mich. Und darauf war ich verdammt stolz. Ich war eine Madrigal. Und sogar die Stolzeste, die es gab.

Lucía - Suche nach der Wahrheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt