Kapitel 1

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LUCÍA

"Lucía! Komm bitte zum Frühstück!" Ich seufzte und ließ von meinem Fenster ab. Wie jeden Morgen hatte ich mein Heimatdorf Encanto aus dem Fenster beobachtet, während ich mein Lieblingskuscheltier, eine kleine Ratte namens Pepito, gestreichelt hatte. Ich beobachtete immer morgens das Dorf, das ganz friedlich vor mir lag. Nur schade, dass ich nicht ehrlich zu all diesen Menschen sein konnte. Ich hatte etwas, das meine Mutter mir verbot jemandem zu zeigen - eine magische Gabe. Ich konnte mit meinen Händen Eis erschaffen und auch Schnee vom Himmel regnen lassen, aber meine Mutter wollte nicht, dass ich diese Fähigkeit jemandem zeigte. Sobald ich das Haus verließ, musste ich ganz normal tun und leider musste ich daher auch alle im Dorf anlügen. Mamá wollte nicht, dass die Leute im Dorf dann denken würden, dass ich eine Hexe sei, obwohl ich nicht ganz verstand, wieso sie das tun sollten. Schließlich gab es im Dorf ja auch die Familie Madrigal. Sie hatten durch ein Wunder alle Gaben bekommen und dafür wurden sie vom Dorf verehrt, also wieso sollten die anderen dann denken, dass ich eine Hexe wäre? Ich hatte nicht viel mit der Familie Madrigal zu tun, eigentlich gar nichts, aber manchmal hatte ich das Gefühl, mit ihnen über meine Kräfte reden zu müssen. Vielleicht wussten sie ja, woher sie kamen. Unter Umständen konnte ich ja mal Mirabel oder Camilo fragen, wenn ich sie in der Schule oder im Dorf sah. Unter Umständen konnten sie mir ja weiterhelfen. Aber sollte Mamá das mitbekommen, würde sie richtig sauer werden und das wollte ich auch nicht. Ich würde mir das wohl noch einmal überlegen müssen. Ich legte mein kleines Plüschtier zur Seite, das ich schon hatte, seit ich ein Baby war und ging dann hinunter zu meiner Mutter in die Küche. Sie war meine einzige Familie, was wahrscheinlich auch der Grund dafür war, dass ich sie nicht verärgern wollte. Sie hatte bereits den Tisch gedeckt und uns beiden eine Tasse Kaffee hingestellt, aber irgendwie hatte ich kaum Hunger. Ich wollte lieber das tun, was ich schon seit Jahren machte - rausfinden, woher meine Gabe kam und wer mein Vater war. Meine Mutter hatte mir nie von ihm erzählt, alles, was ich wusste, war, dass er mich nie kennen gelernt hatte, weil sie nicht wollte, dass ich mit ihm zusammenkam. Angeblich hatte er wohl etwas Schreckliches getan und war deswegen auch verschwunden, aber meine Mutter wollte mir nicht einmal seinen Namen sagen. Und der Rest im Dorf dachte ohnehin bereits, dass es ein schlechtes Zeichen war, dass ich keinen Vater hatte, also konnte ich sie auch nicht fragen. Mich konnte eh keiner so richtig leiden, ich hatte nicht einmal richtige Freunde, es reichte gerade so für ein bisschen höflichen Smalltalk. Ich strich mir etwas Staub von meinem blauen Kleid und zog das Band meines geflochtenen Zopfes enger. Meine schwarzen Haare waren glatt und gingen mir im offenen Zustand fast bis zum unteren Rücken und daher flocht ich sie mir meistens zu einem Zopf. Ich setzte mich meiner Mutter gegenüber an den Tisch. Wie immer trug sie ihr rotes, hochgeschlossenes Kleid. Sie war sehr traditionell und wollte aus mir unbedingt eine junge Señora machen, aber dafür war ich einfach nicht der Typ. Ich trug kurze Ärmel an meinem Kleid und lief am liebsten im Wald herum, um Sachen mit meiner Gabe zu bauen. Wenn Mamá das wüsste, würde sie mich wahrscheinlich umbringen!
"Sitz bitte gerade, hija!", befahl Mamá, als ich mich gemütlich in den Stuhl lehnen wollte. Ich seufzte, nickte und setzte mich wieder aufrecht hin.
"Sí, lo siento, Mamá", beeilte ich mich zu sagen.
"Schon besser, Lucy. Was hast du heute denn noch so Schönes vor, nachdem du in der Schule warst?", fragte Mamá neugierig nach.
"Ich wollte noch etwas spazieren gehen", antwortete ich. "Einfach ein bisschen entspannen. Du weißt ja, wie anstrengend die Schule sein kann. Besonders, wenn man seine Fähigkeiten verstecken muss." Mamá nickte und lächelte mich an, bevor sie meine Hand nahm und diese leicht drückte.
"Das kann ich verstehen, amor, aber die Leute im Dorf dürfen nicht wissen, was du kannst. Ich will nicht, dass sie dich verteufeln. Sei einfach mein perfektes, kleines Mädchen und werde zu der Señora, zu der ich dich schon seit Jahren versuche zu erziehen", erwiderte sie fürsorglich.
"Ja, das versuche ich jeden Tag, Mamá. Ich tu mein Bestes, wirklich", meinte ich, sie lächelte mich an und tätschelte meine Hand, bevor sie sie wieder losließ.
"Das weiß ich doch, mi princesa hermosa. Und du machst das toll", stimmte sie mir schnell zu. "Aber dann sei beim Spaziergang bitte vorsichtig mit deiner Gabe, ja? Nicht, dass es jemand sieht."
"Natürlich, das bin ich doch immer", beeilte ich mich zu sagen. "Keine Sorge, keiner wird etwas mitbekommen."
"Sehr gut, Schätzchen", sagte sie und wandte sich dann ihrem Brot zu. So war es jeden Morgen. Meine Mutter fragte mich über meine Pläne aus, befahl mir, gerade zu sitzen und bat mich dann, meine Gabe keinem zu zeigen. Jeden Morgen hörte ich denselben Monolog und dieselben Bitten, aber ich hatte gelernt, einfach nur zuzustimmen. So vermied ich einen Streit und konnte recht schnell gehen. Obwohl ich auch nicht wirklich Lust hatte, in die Schule zu gehen. Es lag nicht am Lernstress, ich hatte in jedem Fach Einsen (was auch daran lag, dass meine Mutter das erwartete), aber ich hatte einfach keine Freunde und fand es sehr anstrengend, meine Gabe so lange vor so vielen Menschen zu verstecken. Was für ein Glück die Madrigals doch hatten, dass sie das nicht mussten! Manchmal wünschte ich, ich wäre einer von ihnen. Das würde mein Leben so viel einfacher machen!

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Das war das erste Kapitel meiner neuen Geschichte. Wie findet ihr sie? Lasst gerne Feedback da!🥰

Cassy

Lucía - Suche nach der Wahrheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt