Kapitel 16

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BRUNO

Wir mussten etwas tun! Lucía war wirklich verzweifelt und wer wusste schon, was sie in ihrer Verzweiflung alles tun würde! Ich sah Mirabel an.
"Mirabel, wir müssen etwas tun!", sagte ich entschlossen. "Ihr seid doch gut befreundet! Tu etwas!" Meine Nichte sah mich unsicher an.
"Würde ich gerne, aber ich weiß nicht, was", wandte sie ein. "Ich hab keine Ahnung, wie ich sie da rauskriegen soll! Ich kenne sie ja auch erst seit einigen Tagen!" Ich seufzte. Was nun? Wie konnte ich meiner Tochter helfen? Ich sah mich um. Eine große Liane hing an einem der Bäume hinunter. Das könnte uns tatsächlich helfen. Ich ging zum Baum und riss die Liane hinunter.
"Mirabel, hilf mir mal! Wir müssen uns damit irgendwie ins Schloss bringen!", rief ich, worauf Mirabel sofort zu mir kam und mir die Liane abnahm.
"Ich hab eine Idee", sagte sie und kletterte auf den Baum, um die Liane dort wieder festzubinden, sodass sie jetzt wie ein Seil an einem dicken Ast herunterbaumelte. "Damit können wir auf den Balkon schwingen! Dann kriegen wir bestimmt auch die Tür auf!" Mirabel war genial. Womit hatte ich nur so eine schlaue Nichte verdient? Ohne zu zögern, schwang sie sich vom Baum und hängte sich an die Liane. Sie holte Schwung, bevor sie sich auf den Balkon schwang und dort geradeso stehen blieb. Sie hielt sich am Geländer fest und warf mir das Ende der Liane zu. "Jetzt bist du dran, tío!" Ich nickte und nahm die Liane unsicher in die Hand. Im Sport war ich noch nie gut gewesen, aber jetzt musste ich das tun. Für Lucía. Also seufzte ich, holte Schwung und schaffte es tatsächlich wie durch ein Wunder, auf dem Balkon zu landen. Mirabel hielt mich fest, lächelte mich an und zog mich dann auf den vereisten Balkon. Zu meiner Überraschung war er nicht einmal rutschig, also konnten wir ohne Gefahr hinzufallen zur Tür laufen. Wir schoben die riesige Tür auf und beim Anblick des Inneren des Palastes, stockte mir der Atem. Alles war aus wunderschönem, blauem Eis gebaut, an der Decke hing ein prachtvoller Kronenleuchter in der Form einer Schneeflocke. Das hatte alles Lucía gebaut? Das war unglaublich! Wir liefen eine große, geschwungene Treppe hinauf und kamen schließlich in einen Raum, der wohl ein Schlafzimmer sein sollte. Doch das, was ich in der Mitte des Raumes sah, schockte mich. Lucía stand dort und hielt einen riesigen, spitzen Eiszapfen in der Hand, dessen Spitze sie auf ihre Kehle gerichtet hatte. Sie wollte sich doch nicht etwa umbringen?!
"Lucía! Was tust du da?!", schrie ich geschockt und erreichte dabei eine nie geahnte Höhenlage meiner Stimme. Lucía drehte nicht den Kopf, aber ihr Blick wanderte dennoch zu mir.
"Das siehst du doch", flüsterte sie verzweifelt. "Nur so kann ich meinen Fluch brechen und Mamá helfen."
"Das ist nicht wahr und das weißt du auch!", widersprach ich ihr sofort. "Du bist kein Fluch und Julieta wird Maria heilen können, das weiß ich! Bitte, Lucía! Du bist meine Tochter, ich will dich nicht sterben sehen!" Ich konnte sehen, dass ihr Tränen in die Augen traten.
"Ich weiß, Papá. Ich hab dich lieb, aber ich muss das tun. Wenn du es nicht sehen kannst, dann geh mit Mirabel raus", erwiderte sie kühl, worauf ich Mirabel hilfesuchend ansah. Sie trat einen Schritt nach vorne.
"Lucía, du bist meine Freundin und meine Cousine! Ich werde das nicht zulassen, hörst du? Die Familie liebt dich, da kann Maria sagen, was sie will! Wir werden immer hinter dir stehen und dich unterstützen, aber dazu musst du mit nach Hause kommen. Bitte", flehte sie, aber auch das schien meine Tochter vollkommen kalt zu lassen. Sie sah uns nur noch einmal traurig an, bevor ihr Blick wieder zu dem spitzen Eiszapfen glitt.
"Es tut mir leid", flüsterte sie kaum hörbar und bevor Mirabel und ich sie aufhalten konnten, durchbohrte die Spitze des Eiszapfens die Kehle. Ich schrie auf und rannte sofort zu Lucía. Blut floss aus ihrem Hals und sie hatte bereits die Augen geschlossen. Nein, das durfte nicht sein. Ich musste etwas tun - und zwar schnell! Ich sah Mirabel an.
"Hilf mir, Mirabel! Wir müssen Lucía sofort zu Julieta bringen, bevor sie stirbt!", schrie ich sie panisch an, sie nickte und kam zu mir gerannt, um mit mir Lucía hochzuheben. Wir mussten uns wirklich beeilen, denn lange hatte Lucía definitiv nicht mehr!
So schnell wie nun, war ich noch nie durch den Wald gerannt. Casita empfing uns bereits mit offener Tür, drinnen wartete der Rest der Familie mit Maria. Diese saß mit einer Decke auf einer Bank im Hof, doch sprang erschrocken auf, als sie Lucía sah. Mirabel und ich waren blutverschmiert, als hätten wir selber einen Mord begangen, aber das störte uns nicht. Wir wollten nur Lucía helfen. Ich sah meine älteste Schwester an.
"Julieta, hilf uns, bitte!", flehte ich und sah meine Tochter an. Der Eiszapfen war bereits geschmolzen, es gab nur noch die klaffende, blutende Wunde an ihrem Hals. "Lucía hat sich einen Eiszapfen in die Kehle gebohrt, weil sie ihren Fluch brechen wollte! Wir haben sie so schnell wie möglich hierher gebracht, aber du musst sie retten!" Schockiert sahen alle Lucía an, doch dann nickte Julieta.
"Natürlich. Bringt sie hoch, damit sie liegen kann. Ich hole die Arepas", erwiderte sie, also brachten Mirabel und ich sie in mein Zimmer. Wir legten sie auf meinem alten Bett ab, während ich mich zu ihr setzte und meine Hand über die Wunde hielt, um die Blutung so gut es ging zu stoppen.
"Komm schon, mi vida, halte durch!", flehte ich verzweifelt, während Tränen in meinen Augen zu brennen begannen. "Julieta ist gleich da und dann geht es dir auch wieder gut, versprochen! Und ich werde dir nie wieder von der Seite weichen, das verspreche ich dir bei meinem Leben!" Da kam Julieta mit einem ganzen Korb voller Arepas ins Zimmer. Sie setzte sich zu uns und sah dann ihre Tochter an.
"Geh dich waschen, Mirabel. Bruno und ich machen das schon", sagte sie beruhigend, Mirabel nickte nur stumm und verließ das Zimmer, während Julieta eine Arepa aus dem Korb nahm und sie Lucía in den Mund steckte. Sie musste die Kaubewegungen für sie machen, da Lucía bewusstlos war und nichts mehr mitbekam.
"Sie wird überleben, oder?", fragte ich panisch, während mir mein Herz bis zum Hals schlug. Julieta seufzte und sah mich an.
"Ich weiß es nicht."

Lucía - Suche nach der Wahrheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt