Im Schatten des Krieges

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„Wir alle hätten einige Dinge anders gemacht, hätten wir gewusst, was passieren wird. Doch wir Menschen besitzen die Gabe der Voraussicht nicht und vielleicht ist dies auch nicht nur schlecht, denn es lehrt uns, den Moment wertzuschätzen, in dem wir leben. Das ist der Grund, aus dem ich dir jeden Morgen meine Liebe versichere", entgegnete Éowyn und küsste das Haupt ihres Mannes voller Zuneigung.

Der Fürst von Ithilien wandte den Kopf, seine Augen sprachen zärtlich von der Ehrlichkeit seiner Antwort, welche er seiner Gemahlin zu jedem Tagesanbruch gab: „Du bist die Sonne meines Lebens, nur mit dir an meiner Seite kann mein Tag beginnen."

Die Worte schmeckten vertraut, nun da ihre Hochzeit bereits drei Monate zurück lag, doch noch immer durchflutete eine Woge der Herzenswärme ihn, wenn sie seiner wunderschönen Frau ein weiches Lächeln auf die Lippen zauberten. Mit Éowyn an seiner Seite fühlte Faramir sich befähigt alle Wege zu beschreiten, die das Leben für ihn bereit hielt. Ihre Liebe gab ihm so viel Kraft, dass er sich selbst fragte, wie er all die Jahre ohne sie hatte leben können.

"In den Häusern der Heilung hingegen herrschte immer reges Treiben. Obwohl die Zahl der verletzten Soldaten, die zu uns gebracht wurden, täglich zuzunehmen schien, lag doch unser Augenmerk auf den Vorbereitungen für den bevorstehenden Krieg.

Wie du dir gewiss denken kannst, war ich dankbar für diese Ablenkung, denn obwohl noch lange keine körperlichen Zeichen zu sehen waren, mein Gefühl sagte mir mit endgültiger Sicherheit, dass ich ein Kind erwartete.

Meine Mutter war mit den Frauen nach Lossernach gereist, ebenso wie meine Freundin Eleya, und obwohl ich sie in diesen Tagen an meiner Seite vermisste, nahm es mir doch eine große Last von den Schultern meine Liebsten dort in Sicherheit zu wissen. Um meinen Vater hingegen sorgte ich mich sehr, denn auch dieser war außerhalb der Stadt, jedoch nicht, um den Gefahren des Krieges zu entkommen, sondern an vorderster Front.

Jeden Morgen, wenn ich mich auf den Weg in die Häuser der Heilung machte, fiel mein Blick auf die Ruinen Osgiliaths, dem letzten Bollwerk zwischen dem dunklen Schatten am Horizont und uns. Dort war mein Vater stationiert, trotz seines Alters."

Der darauffolgende Satz war zweimal sauber durchgestrichen, beinahe unkenntlich gemacht, was dort gestanden hatte. Faramir musste den Brief gefährlich nah an die Kerzenflamme halten, um trotzdem entziffern zu können, was dort stand. Auch wenn dieser Teil wohl nicht für ihn bestimmt war, so war es ihm dennoch ein Bedürfnis, alles zu erfahren, was seine Freundin vor ihrem Tode umgetrieben hatte. Die Zeilen waren jedoch derart unkenntlich gemacht, dass selbst für das über Jahrzehnte geschulte Auge des Bogenschützen die Worte nur mehr schwer zu entziffern waren:

„Es steht mir nicht zu, mein... meine unbedeutende Meinung zur Verteilung der Soldaten zu äußern, doch... beschlich mich schon lange das ungute Gefühl, dass die kein Zufall... dies kein Zufall war."

Der Fürst Ithiliens runzelte irritiert die Stirn. Was sollte dies bedeuten ‚kein Zufall'? Nur schemenhaft konnte er sich an den Mann erinnern, der immer ein freundliches Wort auf den Lippen gehabt hatte, der nicht nur Beorids, sondern auch Beregonds Vater gewesen war.

Denethors Zweitgeborener hatte in den letzten Jahren jedoch, trotz aller Bemühungen Nähe zu seinen Soldaten zu wahren, den Überblick verloren. So viele waren gestorben, so viele verwundet worden oder nie wieder aufgetaucht, dass er nicht mehr sagen konnte, welches Schicksal wen ereilt hatte. Faramir selbst hatte derart viele Männer, die Frau und Kinder hatten, in den Tod geführt, allein der Gedanke daran ließ ihm übel werden vor Schuldgefühlen.

„Ahnst du, was sie meint?", erkundigte Éowyn sich vorsichtig, als wäre sie unsicher, ob er seine Gedanken mit ihr zu teilen gewillt sei. Faramir zögerte einen Moment, seine Gedanken jedoch überschlugen sich bald, so sehr war der Mann bemüht, eine Antwort, auch für sich selbst, zu finden. Er seufzte und rieb sich müde über die Augen. Wie spät es wohl war? Gewiss bereits mitten in der Nacht, und er schlug sich mit kniffligen Überlegungen herum.

„Ich weiß es nicht", gestand Faramir, brachte seine Vermutung allerdings nach einem weiteren Zögern doch noch zur Sprache: „Ich fürchte fast, mein Vater hat ihn in voller Absicht aus der Stadt haben wollen. Soweit meine Erinnerung reicht, war Baranor Teil der Turmwache, wie später auch sein Sohn, doch ob es einen Vorfall gab, daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Beorid hat jedoch recht, dass es höchst ungewöhnlich ist, einen Wächter der Veste ohne weiteren Anlass für die Verteidigung ins Feld zu schicken. Besonders, wenn es sich um einen Mann seines Alters handelt."

Faramir mochte es nicht, dem Andenken seines Vaters mit böswilligen Unterstellungen Schaden zuzufügen und womöglich war dies auch Beorids Intention gewesen, die geschriebenen Zeilen wieder unkenntlich zu machen. Doch auch wenn der Fürst sich die Umstände nicht erklären konnte, ungewöhnlich war der Vorfall tatsächlich und nun, da er davon wusste, konnte er ihn nicht wieder vergessen.

Womöglich würde er bei seinem nächsten Besuch in seiner vormaligen Heimatstadt Nachforschungen anstrengen, doch in dieser Nacht fehlte ihm die Kraft für weitere Überlegungen.

Bevor er den Brief jedoch zuende gelesen hatte, würde er keinen Schlaf finden, dessen war Faramir sich bewusst. Müde rieb sich der Mann erneut über die Augen, die vom Weinen, Müdigkeit und Anstrengung, die kleine Schrift im schummrigen Kerzenlicht lesen zu müssen, bereits brannten.

„Soll ich mit dem Vorlesen fortfahren?", bot Éowyn an, der die schlechte Verfassung ihres Ehemannes nicht entgangen war. Dankbar nickte der Fürst Ithiliens, reichte seiner Gemahlin die eng beschriebenen Blätter, nachdem diese ihren Platz hinter ihm verlassen hatte und sich auf einem Stuhl an seiner Seite niederließ.

Für einen Moment schloss Faramir die Augen, spürte dem Knistern des Kaminfeuers nach, lauschte auf das Rascheln der Briefseiten und erinnerte sich an zahllose Abende, an denen er mit Beorid dagesessen hatte, versunken in Schweigen oder einer spannenden Geschichte, die einer von ihnen vorlas.

Noch immer konnte er nicht glauben, dass seine liebe Freundin für immer fort sein sollte, er nie wieder den Klang ihrer Stimme oder ihres Lachens hören, sie keine Geheimnisse mehr miteinander teilen würden. Diese hatte Beorid mit ins Grab genommen, alles was ihm blieb, war dieser Brief. Und das Kind, wie Faramir sich auf einen Schlag wieder erinnerte.

Noch so jung und doch schon verwaist, dachte der Fürst bekümmert, doch bevor er sich in seinem Schmerz verlieren konnte, erklang Éowyns sanfte Stimme und zog ihn wieder in den Bann des Briefes. Mit noch immer geschlossenen Augen lauschend, war es Faramir fast, als erzähle Beorid selbst ihre traurige Geschichte.

Von Tod, Liebe und HoffnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt