~ Lucia II ~

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Der stoßweise Atem der Frau kam abgehakt über ihre vor Schmerz aufgebissenen Lippen, während ihr Leib unter einer erneuten Woge Zuckungen erbebte. Kalte Schweißperlen liefen über die Haut der Heilerin, hinab in die um den Körper geschlungene Leinendecke, hinterließen ein Glänzen im Feuerschein. Beorids Griff war um den Stoff verkrampft, als hinge ihr Leben davon ab, nicht loszulassen.

„Du musst pressen!", befahl die hilflose Geburtshelferin zwischen den Beinen der Schwangeren, auch auf ihrer Stirn stand der Schweiß. Die Niederkunft verlief bei Weitem nicht, wie sie sollte, das Kind lag in Steißlage, eine gefährliche Sache, die viel Fingerspitzengefühl und Erfahrung erforderte, konnte es doch den Tod für beide, Mutter und Ungeborenes, bedeuten. Allerdings waren alle Hebammen der Stadt mit dem Tross nach Lossernach gezogen, um unterwegs und später am Ziel ihrer Reise die Schwangeren und Mütter mit kleinen Kindern zu unterstützen. Damit, dass dieses spezielle Wissen in ihrer Abwesenheit von Nöten sein könnte, hatte keine gerechnet.

Der Schweiß der jungen Frau vermengte sich mit Tränen der Erschöpfung, des Schmerzes und der Angst, aber trotz der unermesslichen Qualen, die durch ihren Körper schossen, spannte sie ihren Unterleib ein weiteres Mal an. Ein gepresstes Stöhnen kam über ihre Lippen, ging über in einen schrillen Schrei, da eine erneute Woge ihren Körper durchfuhr, als würde er von innenheraus verbrennen.

„Ich glaube, sie schafft es nicht...", flüsterte die jüngere der Geburtshelferinnen der Älteren zu, welche sie mit einem scharfen Zischen zum Verstummen brachte, einen sorgenvollen Blick zu der Frau hinüberwerfend, die kraftlos im Stuhl hing und deren braune Augen glasig waren vor Schmerz.

Obwohl die junge Geburtshelferin leise geflüstert hatte, die Bedeutung der Worte war doch in den benebelten Verstand der Gebärenden gedrungen und bestärkten das verzweifelte Gefühl tiefer Hoffnungslosigkeit in ihrer Brust noch.

Erst jetzt, wo sie dasaß und um ihr Überleben und das ihres ungeborenen Kindes kämpfte, war ihr begreiflich geworden, dass es niemals eine Entscheidung zu treffen gegeben hatte: ihr Platz war in der Welt der Lebenden, als Heilerin und als Mutter. Doch dieses kostbare Gut erschien in diesem Moment ihrem Griff zu entgleiten, der Tod so nah, als stünde er direkt neben ihrem Stuhl, darauf wartend die neuen Schützlinge in sein Reich zu geleiten.

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Die junge Frau war am Ende ihrer Kräfte. Die Geburt hatte ihr alles abverlangt, nach so vielen Stunden des Schmerzes und der Angst war ihr Lebenswille erschöpft und sie wünschte sich nichts weiter, als dass diese Qual vorüber gehen möge, sie die Augen schließen und der Welt entschlafen könnte.

Noch immer durchzuckten leichte Wehen den erschlaffenden Leib, doch hatten sie mit der Zeit an Intensität verloren, was die Heilkundigen als ein schlechtes Zeichen werteten. Bedrückt standen die Frauen da, keine wagte es die junge Heilerin vor der Herrin Rohans offen als verloren zu bezeichnen, doch im Stillen waren sie sich alle einig darüber, dass der Kampf bereits entschieden war. Die blonde Frau jedoch hielt noch immer die Hand Beorids und redet sanft auf diese ein, mahnte sie, nicht einzuschlafen.

Eine der jüngeren der inzwischen vier Geburtshelferinnen brachte ein weiteres Mal einen ganzen Schwung blutgetränkter Leinenstreifen hinaus als ihr die aufgeregte alte Iloreth entgegen stolperte. Völlig außer Atem berichtete die Heilerin, was sie soeben erfahren hatte und winkte schnell die anderen Frauen herbei, um auch diese an ihrem neuen Wissen teilhaben zu lassen. Erregtes Gemurmel erfüllte den Raum, so manche Träne floss über ein fassungsloses Gesicht und ein Seufzen entrang sich der Ältesten als wäre eine schwere Last von ihr genommen.

„Was habt ihr guten Frauen?", rief die Tochter Eorls und kam auf die Beine, ohne dabei jedoch die Hand ihrer Freundin loszulassen.

„Herrin, soeben erreichte Botschaft die Stadt, endlich! Der Krieg ist vorüber, wir haben gesiegt!", verkündete Iloreth, die es sich nicht nehmen lassen wollte, die frohe Kunde selbst zu übermitteln.

Éowyn schloss für einen Augenblick die Augen, es fühlte sich geradezu unwirklich an. Vor ein paar Tagen hatte sie noch auf dem Schlachtfeld gestanden, umringt von Feinden, Tod und Verderben, fühlte sich ihren Ahnen näher als den Lebenden und der Krieg schein alles zu sein, was von der Welt übriggeblieben war. Nun hingegen stand sie hier, frische Kleider am Leib, auf dem Wege der Genesung, während der Krieg wie ein unsichtbarer Schatten über allem hing und plötzlich sollte das alles vorüber sein? Éowyns Augen füllten sich mit Tränen der Erleichterung, wenngleich das Begreifen erst langsam, wie zähflüssiger Honig, in ihren Verstand sickerte.

„Beorid, habt Ihr das gehört? Ihr dürft jetzt nicht aufgeben!", sprach die weiße Herrin eindringlich zu der völlig erschöpften Frau und drückte die erschlaffte Hand noch ein wenig fester. Diese blinzelte eine Träne fort und blickte aus ihren müden, braunen Augen auf.

„Wenn ich sterbe, werdet Ihr Euch dann meines Kindes annehmen?"

Die Verzweiflung klang klar aus den Worten der Erschöpften, doch störrisch schüttelte die Herrin Rohans den Kopf: „Ihr werdet nicht sterben. Ihr werdet dies überleben und Euer Kind selbst aufwachsen sehen!"

Doch Beorid brauchte die Gewissheit, dass für den schlimmsten Falle vorgesorgt war, denn darauf, dass ihre Schwägerin, welche zu diesem Zeitpunkt selbst einen kleinen Jungen von einem halben Jahr hatte, und überdies hunderte Meilen entfernt war, sich dieser Bürde annehmen würde, konnte sie sich nicht verlassen.

„Versprecht es mir, bitte", flehte die junge Frau und noch mehr als die atemlos gekeuchten Worte waren es die zärtlichen Augen der jungen Heilerin, die Éowyn letztlich bewogen der Freundin ihr Wort zu geben.

Das Fenster wurde geöffnet und ein eisiger Windhauch trug die verbrauchte Luft und den Kupfergeruch des Blutes fort. Es war einer der letzten Tagesanbrüche im März und er brachte bereits den Hauch des Frühlings mit sich, obwohl in der Luft noch immer der Geschmack des Frostes lag. Beorid wandte erschöpft den Kopf in Richtung des Fensters und beobachtete, wie die ersten Strahlen der Morgensonne hineinfielen.

„Jede Nacht geht irgendwann zu Ende und es folgt ein neuer Morgen", erinnerte sie sich einmal gehört zu haben und der Gedanke gab ihr Kraft.

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Ein Schrei zerriss die angespannte Stille. Obwohl sie völlig entkräftet war und kurz davor erneut das Bewusstsein zu verlieren, riss Beorid die Augen auf, um wenigstens einen einzigen Blick auf das Wunder zu erhaschen, für das sie so lange und erbittert gekämpft hatte.

Nie zuvor hatte derartige Zärtlichkeit in Éowyns Blick gelegen wie jene, die nun die müden Gesichtszüge der Frau weich werden ließ und die blauen Augen zum Leuchten brachte.

„Sie ist wundervoll", hauchte die weiße Herrin, als sie sich mit dem Kind auf dem Arm neben der jungen Mutter zu Boden gleiten ließ. Die Wangen der Frau wurden von neuem mit Nässe benetzt, doch dieses Mal waren es Tränen der Freude. Ein einziges Wort kam über die rissigen Lippen: „Lucia."



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*Der Name Lucia bedeutet "die Strahlende", "die Lichtbringende" sowie auch "die ins Licht Geborene"

Von Tod, Liebe und HoffnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt