23. Kapitel: Hoffnung

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Quälend langsam öffneten sich seine Augen, seine Sicht war verschwommen, wurde aber wieder klar. Wo war er? Was war passiert? Dann erinnerte er sich plötzlich. An sie, den Schuss, den Tunnel, den Traum. Er schloss noch einmal die Augen, ehe er sich schließlich umblickte. Der Raum lag im Halbdunkeln, er konnte die Gestalt, die zusammengesunken auf einem Stuhl saß, der sich neben dem Bett befand, in dem er lag, erst kaum erkennen. "Stella." Seine Stimme war rau und heiser, ähnelte mehr dem Krächzen eines Raben. Er räusperte sich ein paarmal und hustete.

Von den Geräuschen geweckt fuhr sie hoch und starrte ihn zunächst erschrocken an. Dunkle Augenringe zierten ihr schmales, blasses Gesicht, sie wirkte müde und erschöpft. Dann zupfte ein erleichtertes Lächeln an ihren Mundwinkeln. "Wie geht es dir?" Er wollte zum Sprechen ansetzen, musste sich jedoch erneut räuspern. Sie reichte ihm ein Glas Wasser, er nickte dankbar und trank.

"Ganz gut, denke ich", antwortete er, nachdem er das Glas geleert hatte. Er richtete sich vorsichtig auf und horchte etwas in sich hinein. "Ich bin ziemlich müde und habe Kopfschmerzen, aber sonst ..." Er deutete auf den großen Verband, der um seinen Bauch gewickelt war. "Weißt du, wie es da so aussieht?" "Du hast wohl Glück gehabt und es scheint ganz gut zu heilen", erwiderte sie.

Er nickte und schloss für einen kurzen Moment seine Augen. "Wo sind wir hier denn eigentlich", fiel ihm dann ein. "Bei Jerry." "Jerry? Wer ist das?" "Er ist wohl so etwas wie ein alter Bekannter, könnte man sagen. Er kennt sich aus mit Verletzungen und ist ein Aussteiger. Er ist wohl der Einzige, den sie nicht gefunden haben."

"Okay." Ihm fielen erneut die Augen zu und er musste herzhaft gähnen, sie lachte leicht, als sie sagte: "Schlaf am besten erstmal ein bisschen." Und das tat er.


"Du solltest mal nach ihr sehen", meinte Jerry, nachdem er ihm den Verband abgenommen hatte. "Ihr geht es nicht so gut, glaube ich." Er nickte besorgt und machte sich auf die Suche nach ihr. Er fand sie in der Küche vor dem Fenster stehend, den Blick nach draußen gerichtet, die Arme fest um ihren Körper geschlungen. Leise trat er neben sie und sah ebenfalls hinaus, registrierte allerdings aus dem Augenwinkel, dass eine Träne lautlos über ihre Wange rollte.

"Ich hätte dich fast umgebracht", brach sie dann das Schweigen. "Aber ..." "Das warst nicht du", beendete er den Satz. Sie wandte ihm ihr tränenüberströmtes Gesicht zu. "Da ist jemand in meinem Kopf", flüsterte sie und er sah die Angst in ihren Augen. "Irgendjemand, der einfach kommt und ..."

Er legte seine Arme um sie, drückte sie an sich, hielt sie fest. Sie schluchzte, durchnässte sein Oberteil, bis er sie nach einer Ewigkeit wieder vorsichtig losließ. "Du hast vermutlich eine dissoziative Identitätsstörung", erklärte er. "Das bedeutet, du hast mehrere Persönlichkeiten, die abwechselnd die Kontrolle übernehmen. Sie sind wohl bei einem traumatischen Ereignis in deiner früheren Kindheit entstanden. Die Geschehnisse waren so schlimm, dass dein Gehirn das Ganze nicht richtig verarbeiten konnte. Um dich zu schützen, wurde eine zweite Persönlichkeit geboren. Diese Identität hat das miterlebt, was zu traumatisch für dich war. Später entstanden vermutlich noch weitere. Aber durch sogenannte Trigger kommen sie wieder zum Vorschein, du bekommst davon nichts mit, stattdessen hast du öfter Erinnerungslücken."

Sie nickte erstaunt. "Ich habe Erinnerungslücken. Meistens eher kurz, dafür aber öfter als andere Menschen." "Seit wann hast du sie denn?" Sie überlegte. "Eigentlich schon immer. Aber in meiner Kindheit ist nichts Traumatisches passiert." Dann verfinsterte sich ihr Gesicht. "Mal abgesehen von meinem Vater. Manchmal hat er uns behandelt wie den letzten Dreck und nicht wie seine Kinder." "Du kannst dich an den Auslöser für deine DIS nicht erinnern, weil ja eine andere Persönlichkeit diese Situation erlebt hat. Nur diese Persönlichkeit hat die Erinnerung. Es sind tatsächlich mehrere, von einander unabhängige Personen, mit eigenen Erinnerungen und eigenen Charakterzügen."

Er merkte ihr die Verzweiflung an. Das war alles einfach zu viel auf einmal. "Wir kriegen das schon hin, okay?" Sie blickte ihn lange an, als würde überprüfen wollen, ob er die Wahrheit sagte. "Versprichst du es?"

"Ich verspreche es."

"Okay."

 Sie griff nach seiner Hand und ein sanftes Lächeln zierte sein Gesicht, als er seine Finger mit den ihren verschränkte.


701 Wörter. Dies ist das letzte richtige Kapitel, aber da kommt noch ein bisschen was.

Soul ShardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt