19. Kapitel: Tränen

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Er wusste nicht, mit welcher Geschwindigkeit die Zeit verstrich. Aber irgendwann öffnete sich die Zellentür und Stella wurde hineingestoßen und seine Ketten wurden gelöst, damit er etwas trinken konnte. Gierig leerte er den Becher, dann wurde die Tür wieder verschlossen.

Zu zweit war es doch recht eng. Im Halbdunkeln versuchte er, ihren Zustand zu erkennen. Sie sah schlimmer aus als beim letzten Mal. Ihre Arme waren blutverkrustet, dort, wo sonst feine weiße Linien ihre Haut zierten. Sie hatten ihr die Narben aufgeschnitten. Die Handgelenke waren wund gescheuert und ihre Zehen waren mit Pflastern verklebt.

Der Mann hatte ihn nicht wieder angekettet und so konnte er sich direkt vor sie knien. Vorsichtig strich er ihr die Haare aus dem malträtierten Gesicht. "Geht es dir gut?", fragte er leise. Sie schüttelte stumm den Kopf und begann plötzlich, leise zu schluchzen. Und er hielt sie fest, wiegte sie in seinen Armen, ließ sie nicht los.

"Ich halte das nicht mehr aus", weinte sie an seiner Schulter. "Ich weiß nicht, was sie mit mir tun, aber es macht mir Angst. Ich will einfach nicht mehr. Und ich kann es nicht ertragen, dass sie ..." Sein Pullover verschluckte den Rest ihres Satzes. "Warum hast du ihnen eigentlich nie gegeben, was sie wollen?" Sie lachte verzweifelt auf. "Das ist es ja. Ich kann nicht. Selbst wenn ich wollte. Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich erinnere mich daran, wie dieser Mann mich befreit hat, aber danach? Nichts."

"Sie werden nicht aufgeben, bevor sie ihr Ziel erreicht haben", fuhr sie fort. "Vermutlich ist es gut, dass ich mich nicht erinnern kann. Was auch immer in der Akte stand, sie werden es nie erfahren. Aber sie werden mich für immer und ewig jagen und verfolgen." Sie seufzte und es klang irgendwie endgültig. "Wir werden einen Weg finden", versprach er. Er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

Unauffällig warf er einen Blick über die Schulter, aber niemand war ihm gefolgt. Dann öffnete er die Tür und betrat auf leisen Sohlen den Raum, zog die Tür langsam hinter sich zu. Das Büro war leer. Er umrundete vorsichtig den großen, imposanten Schreibtisch aus dunklem Mahagoni und tastete die Holzpanele der Wand ab. Eines von ihnen gab nach und die Wand glitt lautlos zur Seite. Dahinter verbarg sich ein weiteres Zimmer, jedoch deutlich kleiner als das, in dem er gerade eben noch gestanden hatte. Fassungslos betrachtete er die mit Fotos vollgehängten Wände. Auf allen war diese junge Frau zu sehen, Stella. Er hatte gewusst, dass der Präsident zwar manchmal Bilder von den Gefangenen machte, vermutlich als Erinnerungsstück, aber er hatte nicht mit diesem Ausmaß gerechnet. Der Mann schien besessen von ihr zu sein oder von dem Wissen, das sie besaß. Plötzlich hörte er etwas, sah sich panisch um und entdeckte im Halbdunkeln eine Art Schalter, den er hastig betätigte. Die Wand begab sich an ihren ursprünglichen Platz und er stand allein im Dunkeln. Im nächsten Augenblick hörte er bereits, wie jemand das Büro betrat und die Tür hinter sich schloss. Dumpfe Schritte drangen zu seinen Ohren, dann ein Rascheln, vielleicht Papier. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, in diesem engen, stickigen Raum. Aber irgendwann hörte er das erlösende Klappen der Tür und seufzte erleichtert, wenn auch recht leise. Er wartete noch ein wenig, dann drückte er erneut den Schalter, obwohl er ein paar Schwierigkeiten hatte, diesen im Dunkeln zu finden. Licht drang an sein Auge und kurz musste er ein paar Mal blinzeln. Er trat zurück in das Büro und warf noch einen Blick zurück zu den Fotos. Für einen kurzen Moment blickte ihn Aleahs Gesicht verzweifelt von den Wänden an. Und da fasste er einen Entschluss. Er würde seinen Schwager und Stella retten. Auch wenn er dabei draufgehen konnte. Aber er wusste, er würde Aleah nie wieder in die Augen sehen können, wenn er einfach tatenlos zusah. Für sie würde er alles riskieren. Es würde nicht all die schlimmen Dinge wiedergutmachen, die er getan hatte. Nichts würde es wiedergutmachen. Aber er konnte zumindest versuchen, zwei Menschen hier rauszuhelfen. Selbst, wenn es sein Ende bedeuten würde.

Sie fühlte sich seltsam leer. Die Tränen hatten alles fortgespült, den gesamten Sturm, der in ihr gewütet hatte, sie fast zerrissen hätte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wollte mit jemandem reden, aber irgendwie auch wieder nicht. Und selbst wenn, mit wem hätte sie denn reden können? Ciaran war wieder gegangen und Adriel war fort. Sie war froh, dass die Kinder für ein paar Tage bei Freunden übernachteten. In ihrem jetzigen Zustand wollte sie sich ihnen nicht zeigen. Es gab nur eine Person, mit der sie jetzt reden wollte, die ihr einfach nur zuhören würde. Sie zog sich eine Jacke über und schob die Kapuze ins Gesicht, hielt den Kopf gesenkt, damit keiner der Passanten ihre roten, geschwollenen Augen sah. Der Friedhof hatte bereits geschlossen, aber sie kletterte über die efeubewachsene Mauer und hielt schließlich vor dem Grab ihres Bruders. "Weißt du eigentlich, wie sehr du mir fehlst? Ich brauche dich, Alian. Warum bist du nur in dieses Scheißauto gestiegen?" Eine Träne rollte ihr langsam die Wange herab und fiel schließlich lautlos zu Boden. "Du würdest mich jetzt ermutigen, wieder aufzustehen und nach vorne zu blicken. Aber ich weiß nicht, ob ich das alleine schaffen kann." Er antwortete nicht, nur der Wind zerzauste leicht ihre Haare. "Du wärst ein guter Onkel gewesen", meinte sie plötzlich. "Für Noemi und Jona. Ich hoffe, ich war ihnen eine gute Mutter und werde es auch in Zukunft sein." Und mit diesen Worten erhob sie sich und entfernte sich mit schnellen Schritten vom Grab.


922 Wörter, ein recht langes Kapitel. Und auch recht spät, aber noch rechtzeitig.

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