1. Kapitel: Ein Anfang am Abend

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Die Scheinwerfer schienen die einzige Lichtquelle weit und breit auf der düsteren Landstraße zu sein. Das war jedoch auch kein Wunder, da dichte Nebelschwaden herabgewandert waren und schwer wie Blei über dem Boden hingen. Er fuhr langsam, sehr langsam. Wildunfälle waren zu dieser Jahreszeit häufig, und die Temperaturen würden wohl bald an den Minusgraden kratzen. Außerdem waren die Kurven sehr tückisch, schon manch einer hatte die Markierungen übersehen.

Heute war ein anstrengender Tag gewesen. Er hatte mal wieder eine Auseinandersetzung mit einer seiner Kolleginnen gehabt. Sie hatte ihm vorgeworfen, nicht bei der Sache zu sein und die Patienten zu vernachlässigen. Er seufzte. Das konnte schon sein. Denn er machte sich Sorgen. Das klanglose Verschwinden einer seiner Patientinnen, die ihn normalerweise zweimal pro Woche traf, hatte ein unbehagliches Gefühl in ihm ausgelöst. Doch seine Kollegen hatten seine Zweifel mit einem Lachen abgetan. Und schließlich war sie erwachsen, sie musste sich vor niemandem rechtfertigen, wohin sie ging.

Aber besorgt war er dennoch. Es hatte keinerlei Vorzeichen gegeben, sie hatte keine Andeutungen in die Richtung gemacht. Er seufzte erneut. Vielleicht neigte er auch leicht zur Übertreibung, zu voreiligen Schlüssen. Aber sie hatte auf ihn nie wie jemand gewirkt, der von einem Tag auf den anderen plötzlich seine Gewohnheiten fallen ließ und seine Komfortzone verließ.

Mit einem Kopfschütteln wischte er diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich nun mehr auf die Straße, die ihm schier endlos vorkam.

Und plötzlich war da etwas, direkt vor ihm auf der Fahrbahn. Er reagierte sofort, das Auto machte eine Vollbremsung und sein Kopf wurde gegen die Kopflehne geschleudert. Er schnallte sich ab und verließ den Wagen. In seinem Kopf entstand das Bild eines toten Rehs oder eines verletzten Wildschweins. Aber nein. Nur wenige Zentimeter von der vorderen Stoßstange seines Autos entfernt lag eine Person auf der Straße. Er hockte sich neben sie und drehte sie leicht zu sich.

Und da war sie. Ihr Gesicht war fahl, ihr Mund wirkte eingefallen, die Haare waren zottelig. „Stella? Kannst du mich hören? Stella!"Er nahm ihre kühlen Hände in seine, als sie mit letzter Kraft ihre Augen öffnete. „Hilfe." Sie hauchte es in die kalte Nachtluft, kaum hörbar. Dann verlor sie das Bewusstsein erneut.

Er hatte sie in seinem Auto notdürftig in seine Jacke gewickelt und zu sich nach Hause gefahren. Jetzt lag sie mit mehreren Decken auf seinem Sofa und er ging in die Küche, um Tee zu kochen. Er hoffte, sie würde schnell wieder zu sich kommen, die Unterkühlung wäre nicht so schlimm. Zumindest schien ihre Atmung wieder relativ normal zu sein. Mit zwei vollen Bechern betrat er das Wohnzimmer und setzte sich neben sie. Ihr Gesicht war blass, sehr blass. Nur ihre Wangen hatten sich leicht gerötet. Sie wirkte winzig in den dicken bunten Decken.

Eigentlich hätte er den Notruf wählen müssen, Unterkühlungen waren schließlich sehr gefährlich. Aber er war sich nicht sicher über ihren mentalen Zustand gewesen, aufgrund ihrer Vorgschichte. Vor etwa drei Monaten war sie in seiner Praxis aufgetaucht und hatte um eine Therapie gebeten. Er hatte sorgsam zugehört, als sie von ihren Problemen erzählt hatte, und dann vermutet, dass es sich wohl um eine Posttraumatische Belastungsstörung handelte, ausgelöst durch einen Autounfall. Selbstverständlich hatte er ihr sofort eine Behandlung bei einem Traumatherapeuten nahegelegt, sie hatte jedoch vehement den Kopf geschüttelt und darauf bestanden, sich bei ihm behandeln zu lassen. Er hatte sie zwar mehrfach deutlich darauf hingewiesen, dass er die nötige Ausbildung dazu nicht hatte, doch sie war stur geblieben. Schließlich hatte er überlegt, dass es wohl besser war, wenn sie bei ihm eine Therapie begann, als gar nichts zu unternehmen. Und so tat er alles, was er dank seines Studiums und seiner nicht ganz so weitläufigen Erfahrung tun konnte. Er war eben noch jung, hatte doch gerade erst seine Abschlussprüfungen bestanden. So schien es ihm zumindest manchmal.

Jedenfalls zählten unter anderem auch Blaulicht und Sirenen zu den Auslösern ihrer Flashbacks und er hielt es nicht für ratsam, sie jetzt damit zu konfrontieren. Außerdem war ja wohl irgendetwas in der Zwischenzeit passiert, er hatte sie mitten auf der Straße liegend gefunden. Sie war zwei Wochen verschwunden gewesen. Und er wusste nicht, ob in der Zeit etwas geschehen war, das Spuren hinterlassen hatte. Es war sicherer, sie erst einmal in vertrauter Umgebung zu behalten. Auch wenn seine Wohnung nicht gerade einer ihrer gewohnten Aufenthaltsorte war. Aber er hatte sich in vielen Gesprächen langsam an sie herangetastet, um eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, was ihm auch gelungen war. 

Er stellte einen der Teebecher auf dem Couchtisch ab, den anderen hielt er ihr vorsichtig unter die Nase. Ihre Augenlider flatterten erst kaum merklich, dann öffnete sie ihre Augen. Verwirrt sah sie sich um. „Stella." Er sprach leise. Sie blickte ihn mit einem leicht ängstlichen Ausdruck an. „Wo bin ich?" Die Worte kamen krächzend aus ihrem Mund, sie hustete. Behutsam hob er den Tee an und flößte ihr etwas von der warmen Flüssigkeit ein. „Bei mir zuhause. Du bist in Sicherheit." Sie nickte nur schwach und schlief dann erschöpft ein. Er lauschte ihren ruhigen Atemzügen noch eine Weile, bis er schließlich aufstand, um sich und ihr etwas zu Essen zu machen.


„Sicherheit", lachte der Mann. „Du wirst niemals in Sicherheit sein!" Er kam bedrohlich nahe. „Wo auch immer du dich verstecken würdest, ich würde dich finden. Denn wir würden dich jagen, bis zu deinem Lebensende!" Und in diesem Moment floh sie. An einen Ort, den er niemals erreichen konnte. An einen Ort, der sicher war. So sicher, dass nicht mal sie selbst davon wusste.


907 Wörter. Das erste richtige Kapitel ist da! Zum Thema Updates, erstmal werde ich es bei einmal pro Woche belassen. Vielleicht erhöhe ich es auch irgendwann auf zweimal pro Woche, mal sehen.

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