Kapitel 1 - Selvara

34 3 1
                                    

Die Fee flatterte mit ihren Schmetterlingsflügeln so schnell sie konnte auf der Stelle und riss dabei immer wieder Arme und Beine auseinander.

„Schneller! Du musst dich warm gemacht haben, bevor es losgeht!"

„Lass die Decke nie aus den Augen, es wird versuchen dich mit herunterfallenden Steinen zu erschlagen!"

„Achte auch auf den Boden! Manche versuchen dich mit Steinspitzen aufzuspießen!"

„Hör lieber auf, sonst bist du schon Müde, wenn sich das Portal öffnet."

„Blödsinn! Der Trank sorgt dafür, dass sie eine Woche lang nicht müde wird. Sonst würde doch keine von uns überleben."

„Hast du deinen Rucksack schon gepackt? Denk dran, es gibt kein zurück!"

Kaum hatten Selvaras Flügel angefangen zu leuchten, hatte sich schon ein dichter Haufen an Feen um sie gebildet, die sie mit nützlichen Ratschlägen überhäuften. Sie ignorierte alle Vorschläge und konzentrierte sich auf ihre Aufwärmübungen. Das Flattern so vieler Flügel ließ die zahllosen Blumen der sonnenbeschienen Wiese schwanken und wirbelte einen leichten Nebel aus Blütenstaub auf. Schmetterlinge, die den kleinen Feenwesen bis zum Knie gingen, flogen auf. Überrascht von der ungewohnten Aktivität.

Eine Fee, deren Flügel deutlich schlaffer herunterhingen und die sich langsam und bedächtig bewegte, schob sich durch die Menge. Wo man sie erkannte, machten die anderen Feen ihr eilig Platz.

„Selvara...". Ein Wort genügte, und die Angesprochene brach ihre Übungen ab und flatterte zum Boden hinunter. Dort verbeugte sie sich wortlos.

„Selvara, dreh dich um und breite die Flügel aus." Selvara gehorchte. Wie bei all ihren Geschwistern waren sie glänzend schwarz und durchzogen von einem verwirrenden Muster aus goldenen Doppellinien. Nur, dass ihre Linien zu leuchten begonnen hatten. Die alte Fee betrachtete sie eine Weile und nickte dann: „Die Linien haben fast ihre volle Leuchtstärke erreicht. Das Portal wird sich in wenigen Minuten öffnen. Du hast dich genug aufgewärmt. Fang jetzt mit Dehnübungen an." Selvara folgte eifrig den Anweisungen der älteren Fee, während diese die anderen Feen wegscheuchte: „Zurücktreten! Nicht so nahe, ihr aufgeregten Glühwürmchen. Wollt ihr mitgesogen werden?"

Während Selvara systematisch Arme und Beine dehnte, gab ihr die Fee letzte Anweisungen: „Ich weiß, dass wir das schon unzählige Male besprochen haben. Aber lass einer alten Fee ihre Marotten. Folgendes: Wenn du durch das Portal fliegst, beginn sofort mit Ausweichmanövern. Warte nicht, bis du einen Angriff kommen siehst. Sein Instinkt ist es, sein Revier zu verteidigen. Es wird dich daher entweder sofort angreifen oder erst abwarten, bis du stehenbleibst und ein leichteres Ziel abgibst. Tu das nicht! Bleib in Bewegung. Variiere deine Flugbahn. Es hat keine Erinnerungen mehr, aber es ist nicht dumm. Es hat immer noch alle Instinkte aus seinem früheren Leben. Also die eines mörderischen Psychopathen. Es hat immer noch eine rudimentäre Erinnerung an Sprache und ähnliche Basiskonzepte. Es wird dich verstehen, wenn du langsam sprichst und einfache Sätze verwendest. Hetz nicht. Du hast etwa eine Woche, bis der Trank aufhört zu wirken. Bis dahin musst du es geschafft haben, einen Pakt zu schließen. Es wird Monate dauern, bis es selber die ersten einfachen Sätze bilden kann. Sei geduldig. Ihm die Sprache wieder beizubringen ist eine deiner wichtigsten Aufgaben. Erst wenn du eine Ebene für Kommunikation aufgebaut hast, kannst du Anfangen es in den Grundlagen seiner Fähigkeiten zu unterrichten."

„Was passiert, wenn ich es nicht zu einem Pakt überreden kann?"

Die alte Fee sah keinen Sinn darin etwas zu beschönigen: „Die Antwort kennst du genauso gut wie ich. Dann wirst du müde und setzt dich hin. Es tötet dich, saugt deine Magie auf und versucht alleine zurecht zu kommen. Woran es vermutlich kläglich scheitern wird. Die Helden der Umgebung bekommen keine Möglichkeit ihre Fähigkeiten zu verbessern und werden es wesentlich schwerer haben die nächsten Questen zu bestehen. Questen bleiben unerledigt und die Region versinkt immer mehr im Chaos."

Die Flügel der Fee strahlten grell auf und beleuchteten ihren Körper von hinten, was eine Vielzahl seltsamer Schatten auf das Gelände warf. Dann erlosch das Leuchten und ein winziger goldener Punkt erschien ein paar Schritte vor ihr in der Luft. Kaum war er zu sehen, dehnte er sich nach oben und unten zu einer ein Schritt langen Linie aus, die sich einmal um ihr Zentrum dreht und ein lichtumrahmtes Loch in der Luft hinterließ.

Die alte Fee drückte Selvara eine Glasphiole mit einer violett leuchtenden Flüssigkeit in die Hand. Selvara entfernte den Korken und kippte das bittere Gebräu in einem Zug hinunter. Der Trank fegte die letzten Reste an Müdigkeit hinfort. Wärme und Energie flossen durch alle Muskeln. Die alte Fee befestigte den kleinen Rucksack zwischen ihren Flügeln, zog in fest, klopfte Selvara aufmunternd auf den Rücken und schuppste sie dann vorwärts. Selvara atmete tief durch, startete und flog durch das Portal, ihrem Schicksal entgegen.

Dungeon der Assassinen (Band 1: Questgeber)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt