Kapitel 2 - Malvorik

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Malvorik erwachte. Sofort war ihm klar, dass etwas nicht normal war. Genau genommen war gar nichts normal. Er war schlagartig hellwach geworden. Das hatte er seit seinem 70. Geburtstag nicht mehr erlebt. Der Schleier, der seinen Verstand und seine Erinnerungen in den letzten Jahrzehnten getrübt hatte, war wie weggefegt.

Hatte er einen neuen Zauber ausprobiert? Nein. Experimentelle Thaumaturgie hatte er aufgegeben, nachdem er bei einem neuen Portalzauber eine Wand seines Hauses zerstört und beinahe seinen Arm verloren hatte.

Er konzentrierte sich auf seine letzten Erinnerungen. In letzter Zeit hatte er schon Probleme gehabt sich an den aktuellen Wochentag zu erinnern. Geschweige denn, an die Namen seiner sechs Enkel. Nun war alles ganz klar.

Er hatte den örtlichen Priester von Pallandur gebeten die Liturgie des Ehrenvollen Abschieds auf ihn zu wirken. An seinem 92. Geburtstag hatte er dafür seine Kinder und Enkel um sich versammelt. Er hatte sich mit Lorrik, seinem ältesten Sohn, wieder versöhnt. Wieder für kurze Zeit im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, war es ihm nicht schwergefallen zu erkennen, dass er hauptsächlich aus reinem Altersstarrsinn auf ihn wütend geworden war. Nur weil er seine akademische Laufbahn zugunsten einer Karriere als Kampfmagier aufgegeben hatte. Lorrik war Praktiker, kein Theoretiker. Sein magisches Talent eignete sich tatsächlich mehr für magische Kraftakte, als für subtile Anwendungen. Feuerbälle nach einer Zombie-Armee zu werfen, passte einfach perfekt zu ihm.

Er hatte zum ersten Mal alle seine Enkel mit den richtigen Namen angesprochen, sich Geschichten über einen Nussbaum vom kleinen Jörne angehört und die Steinsammlung von Arnhold bewundert. Die Kleinen hatten nicht verstanden, wieso ihre Eltern immer wieder zu weinen anfingen. Er hatte seinen Kindern in der Einladung ausführlich erläutert, was er vorhatte. Die Liturgie des Ehrenvollen Abschieds verbrauchte seine restliche Lebenskraft, um ihm ein paar Stunden bei voller körperlicher und geistiger Gesundheit zu bescheren. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Zufrieden mit sich und der Welt und umgeben von seiner Familie, schlief er friedlich ein... und starb.

Malvorik stutzte. Er war tot? Das Leben nach dem Tod hatte er sich irgendwie anders vorgestellt. Er sah sich um. Ein quadratischer Raum aus glattem Stein. Er konnte keine Lichtquellen erkennen, auch keine Schatten. Aber da er problemlos sehen konnte, musste es wohl hell sein.

Er versuchte seine Hand vor die Augen zu halten, aber er konnte sich nicht bewegen. Überhaupt konnte er seinen gesamten Körper nicht bewegen oder fühlen. Da war einfach... nichts.

Er wollte die Augen schließen, aber auch das funktionierte nicht. Als hätte er keine Augenlieder. Er drehte den Blick, das funktionierte. Er konnte den Blick in alle Richtungen schwenken. Selbst nach hinten, oben und unten. Seinen Körper fand er dabei nicht. Der Raum bestand nur aus nackten Steinwänden. Er machte sich über die Form des Raumes ein wenig Sorgen. Die Decke war komplett gerade. Er hatte keine Vergleichsmöglichkeiten um die Größe des Raums einzuschätzen, aber er kam ihm groß genug vor, dass diese Deckenform instabil werden konnte. Ein Tonnengewölbe wäre die statisch deutlich bessere Lösung.

Mitten im leeren Raum erschien ein goldener Lichtpunkt, der sich zu einer Linie und dann einem Loch im Raum erweiterte. Er bemerkte, dass er die magischen Strukturlinien ohne Mühe erkennen konnte. Als ob er einen hochgradigen Analysezauber benutzen würde. Jetzt wo er sich auf magische Phänomene konzentrierte, sah er auch einen eng gebündelten Strom aus Magie durch den Raum ziehen, direkt durch das Zentrum seines Sichtfeldes hindurch. Eine Manalinie? Er schenkte dem Manastrom nur einen kurzen Blick, dann konzentrierte er sich wieder auf das sich bildenden goldene Manakonstrukt. Interessiert sah er sich die Struktur an und identifizierte sie als komplexen Portalzauber. Primordiale Energie, gebunden durch Heilige Magie. Das kannte er nur aus den Lehrbüchern. Die Magie der Götter selbst. Ein Einweg-Portal. Der Aurafärbung nach zu schließen, führte es aus einer Globule herein auf die Materielle Ebene.

Dungeon der Assassinen (Band 1: Questgeber)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt