Windstärke 0 | Wyatt

1.5K 90 269
                                    

Als ich in die Küche zurück geschlurft komme, läuft im Frühstücksfernsehen der Wetterbericht. Es muss also ungefähr sieben Uhr dreißig sein. Genervt stöhne ich auf.

Der erste Patient wird Punkt acht auf der Matte stehen. Zwanzig Minuten dauert die Fahrt von Chalmette nach Pines Village in New Orleans und mir fehlt jegliche Erinnerung daran, wo ich gestern Abend meine Schlüssel fallen gelassen habe.

Keine Zeit für Kaffee oder ein ordentliches Frühstück – das Leben fickt mich eben am liebsten ohne Gleitgel.

Zu meinen Füßen lässt sich Tate röchelnd auf die schwarz-weißen Küchenfliesen krachen. Er hat Hunger.

Shit!

Normalerweise füttere ich den fünfzehnjährigen Mopsrüden, sobald ich mich aus demselben leeren Doppelbett geschält habe, das ich mir jetzt schon seit zwei Jahren nicht mehr mit seinem Frauchen teile. Aber heute war ich irgendwie durch den Wind.

Daran, dass ich im Bewusstseinsnebel des Wachwerdens fest damit gerechnet habe, Elises schlafende Gestalt neben mir vorzufinden, wenn ich die Augen öffne, kann es nicht gelegen haben. Weil mir das ständig passiert.

Täglich grüßt dasselbe beschissene Murmeltier.

Auf dem Weg zum Futterschrank zwänge ich mich in meine schwarzen Sneaker, in die ich vermutlich besser hineinkäme, wenn ich die Schnürsenkel lösen würde. Nur fehlt mir dafür die Motivation.

Trockenfutter rieselt prasselnd in ein silbernes Metallschälchen, bevor Tate grunzend darüber herfällt. Zärtlich kraule ich die Hautwülste zwischen seinen Ohren. Als Tierarzt blutet mir jedes Mal das Herz, wenn sich der alte Junge aufgrund seiner plattschnäuzigen Anatomie zwischen Atmen und Fressen entscheiden muss.

Eine halb aufgegessene Schüssel Froot Loops von gestern Abend zieht meine Aufmerksamkeit auf sich, als ich mich in einer fließenden Bewegung aufrichte. Ich lasse einen Löffel der farbenfrohen Masse in meinem Mund verschwinden und bleibe dabei mit den Augen am Fernseher hängen.

Schlagartig stelle ich sämtliche Kaubewegungen ein und, wo ich schon dabei bin, auch gleich das Atmen.

Das kann nicht sein.

Die hellblonde Moderatorin, deren Äußeres mich an Taylor Swift erinnert, sitzt im Interview einer Helikopter-Rettungsschwimmerin der Küstenwache gegenüber. Der Überschrift am oberen Bildschirmrand nach zu urteilen, geht es um Frauen, die in von Männern dominierten Berufen arbeiten.

Von einer Sekunde auf die nächste kommt die Welt um mich herum zum Stillstand.

Keine Ahnung, wie oft ich mich in den vergangenen elf Jahren gefragt habe, was aus dem Mädchen mit den blau-grauen Augen geworden ist.

Jedes Mal, wenn ich aufs Meer hinaus oder in eine nahende Sturmfront geblickt habe, schätze ich.

Als sich unsere Wege damals gekreuzt haben, hatte ich gerade meinen zwanzigsten Geburtstag gefeiert und war mit meinen Freunden in irgendeinem Dreisterne-Hotel nahe der Interstate 40 in Oklahoma City abgestiegen. Am nächsten Morgen wollten wir an einer dieser Tornadojäger-Touren teilnehmen, die ich aus dem Fernsehen kannte.

Die schwere, geladene Sommerluft und prickelnde Gewitterstimmung kündigten an, dass uns eine aufregende Erfahrung bevorstand. Ich konnte es kaum erwarten, diese Naturgewalt mit eigenen Augen zu erleben.

Mit beiden Händen umklammerte ich die Reling meines Balkons und ließ den wolkenverhangenen Himmel auf mich wirken. Dann schloss ich die Augen.

Erinnerungsfetzen der unzähligen Dokumentationen, die ich bis zu diesem Tag inhaliert hatte, fluteten meine Sinne. Ich stellte mir das bedrohliche Pfeifen eines nahenden Wirbelsturms vor, die Schneise der Zerstörung, die er hinterließ.

The Sea is Rough TonightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt