Windstärke 27 | Sky

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Teil 2/3 des heutigen Uploads.

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Normalerweise kann ich Traum und Realität problemlos voneinander unterscheiden, aber die bizarre Sumpflandschaft um uns herum könnte sowohl einer True-Crime Episode, als auch einer Fantasy-Verfilmung entsprungen sein.

Das herausragende Wurzelwerk knorriger Sumpfeichen und Zypressen scheint sich aus Angst vor dem nächsten Hurrikan im Morast festzukrallen.

Spanisches Moos hängt in blassgrünen Büscheln von den Ästen herunter und verleiht der Umgebung ein gespenstisches Flair. Einige küssen die Wasseroberfläche und gehen dort fließend in grasgrüne Algenteppiche über oder streifen vorüber treibende Äste.

Dass es sich dabei in Wahrheit oft um einen Alligator handelt, merke ich meist erst, wenn sie mich aus ihren starren Augen mustern.

Ich verstehe, was Wyatts Frau an diesem unwirklichen Fleckchen Erde so faszinierte.

Tropisch anmutende Blüten in sämtlichen Tönen des Farbspektrums wirken wie wahllos auf dunkelgrünen Untergrund gesprenkelte Farbkleckse und die weichen grün-braunen Wellen des Wasserarms laden dazu ein, sich treiben zu lassen und den Anblick zu genießen.

Plötzlich steigt aus dem Gebüsch, begleitet von ratternden Flattergeräuschen, ein länglicher weißer Vogel in die heiß-schwüle Nachmittagsluft empor. Er durchbricht die sporadisch durch das Geäst fallenden Sonnenstrahlenbündel.

»Silberreiher«, beantwortet eine kaputte Reibeisenstimme zu meiner Rechten meine unausgesprochene Frage.

In der verspiegelten Pilotensonnenbrille unseres Kapitäns kann ich mein eigenes verschwitztes Ebenbild erkennen. Nasse Strähnen kleben an meiner Stirn, sie wirken wie rötliche Flussarme auf einer Landkarte. »Pelikane sieht man in den Swamps auch immer mal.«

Ich erinnere mich an das Exemplar am Anleger, das trotz unserer Ankunft umständlich zusammengefaltet auf seinem heruntergekommenen Holzpfeiler weiterschlief.

»Henry?«

»Mhm?«

»Wie lange machst du diese Touren schon?«

Der Mittfünfziger schabt sich geräuschvoll mit einer Hand über die Bartstoppeln. Die Innenseite seiner Fingerkuppen ist gelblich verfärbt. Sicher vom Rauchen.

»Zehn«, brummt er.

»Jahre?«

Henry nickt.

»Yes Ma'am. Aber die Bayous waren schon lange vorher meine Heimat.« Ich erinnere mich, zu Beginn der Tour gelernt zu haben, dass man so die Wasserarme des Schwemmlandes nennt. Dann wird Henrys Stimme leiser. Über das Surren des Motors hinweg habe ich Probleme, ihn zu verstehen. »Und woher kennst du Wyatt und Elise?«

»Das ist eine kurze unbequeme Geschichte, also ...«

Mit einer schnellen Bewegung seiner sonnengegerbten Hand winkt er ab.

»Kein Problem, tun wir einfach so, als hätte ich nicht gefragt.«

Ich muss lächeln.

»Danke«, sage ich. »Und du?«

Henry blickt in die Ferne und zieht sich das zerfledderte weinrote Basecap weiter ins Gesicht.

»Ich kannte die Byrnes schon, als sie noch nicht die Byrnes waren, wenn du verstehst.«

»Ah«, entkommt es mir. »Ihr seid zusammen aufgewachsen. Deshalb konntest du uns wohl auch so spontan noch einschieben.«

»Nicht nur.« Henry räuspert sich. Abermals wird seine Stimme leise. »Elise hatte ihren eigenen kleinen Blumenladen und gestaltete liebevolle Blumenbouquets für meine Frau, als sie für längere Zeit im Krankenhaus bleiben musste.« Ich möchte fragen, ob es ihr inzwischen besser geht, aber tue es nicht. Etwas in seinem Blick sagt mir, dass sie nicht mehr lebt, noch bevor er es tut. »Ihren Grabkranz hat sie auch zusammengestellt – bunt und opulent, wie es Rosa gefallen hätte. Deshalb möchte ich mich revanchieren, auch wenn es dafür eigentlich schon zu spät ist. Außerdem war sie die Schwiegertochter eines alten Freundes. Da überlegt man nicht lange, sondern hilft.« Henry seufzt schwerfällig. Sein Blick fällt auf die starre Galionsfigur auf dem Vordeck. »Vielleicht helfe ich Wyatt damit auch.«

The Sea is Rough TonightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt