Windstärke 20 | Sky

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»Wir haben uns heute hier versammelt, um das Leben von Commander Xander Neill zu feiern und, in Anerkennung seiner ehrenvollen Dienste für die Vereinigten Staaten von Amerika und die Küstenwache, seine Asche der See zu übergeben. Xander verstarb am 3. September 2022. Seine Karriere begann er im Jahr 1990 und handelte in seinen zweiunddreißig Berufsjahren stets nach den Werten der Küstenwache: Ehre, Respekt und Pflichtverbundenheit. Das Amt des kommandierenden Offiziers hielt er hier in Kodiak von 2020 bis zu seinem Tod inne und hat bei uns seine Herzensheimat gefunden. Daher sind Xanders Angehörige mit dem Wunsch an uns herangetreten, seine Asche über dem Pazifik zu verstreuen, mit dem er sich zeitlebens verbunden fühlte. Möge uns sein Vermächtnis inspirieren, unsere ehrenhafte Mission fortzuführen – in Kodiak, den Vereinigten Staaten von Amerika und wo immer wir uns auf der Welt befinden.«

Lieutenant Commander Valdez spricht mit fester Stimme, während jede Zelle in mir darum kämpft, meinen Körper in einer aufrechten Position zu halten. Für die Beisetzung haben wir uns im hinteren Teil auf der Abflugrampe des schneeweißen Küstenwache-Kutters eingefunden.

Tränen brennen hinter meinen Lidern. Tränen, die nicht fallen werden. Ich bin es leid, zu weinen.

Mein Vater war ein stolzer Mann, der kaum einen Menschen hinter seine Fassade blicken ließ. Nur meine Mutter und ich waren je in der Lage gewesen, vollständig unter seine Haut vorzudringen – den Mann im Inneren der Eisenrüstung zu erleben. Der Gedanke nagelt mich an Ort und Stelle fest, als würde sein Kettenhemd jetzt auf meinen Schultern ruhen. Sein imaginärer Zeigefinger schiebt mein Kinn nach oben.

»Du bist die Stärke, nach der du suchst«, wiederholen sich seine Worte in meinem Kopf. Ab heute befolge ich sie, auch wenn ich das in der Vergangenheit nicht immer konnte.

Ich muss an die Enttäuschung auf Rockys Gesicht denken, als ich ihn um Abstand gebeten habe, weil mich sein Anblick an den schlimmsten Tag in meinem Leben erinnert und ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Oder daran, wie ich Peters Übergriffe stillschweigend ertragen habe, aus Angst, eine offizielle Beschwerde könnte das Leben der Menschen um mich herum zur Detonation bringen. Wie kann man nur so feige sein?

»Aber, wenn mich dein plötzlicher Verlust eines gelehrt hat, dann, dass es für mich noch nicht zu spät ist, etwas zu ändern«, flüstere ich in die raschelnde Meeresbrise.

Eine Möwe schreit über mir, als hätte der Wind meine Worte auf direktem Weg zu ihr getragen, ihre Schwingen umspielt.

Ich widerstehe dem Drang, meinen Kopf hochzureißen und Geistervögel über den Himmel zu jagen. Es kostet mich Kraft, im Moment zu bleiben, präsent zu bleiben, weil mich sämtliche Umgebungsgeräusche wie aus weiter Ferne erreichen.

Erst, als Lieutenant Commander Valdez seine Ansprache fortsetzt, gelingt es mir, meine Sinne scharfzustellen.

»Zum Schluss möchte ich Ihnen das Gedicht Crossing The Bar von Alfred Lord Tennyson vortragen.« Seine Schultern heben und senken sich mit schwerfälligen Atemzügen, als würden ihn unsichtbare Hände von oben in den Boden drücken. »Ich fand schon immer Trost darin, den Tod als Übergang in das nächste Leben zu verstehen, statt in meiner Furcht zu ertrinken. Und genau das bringen die folgenden Zeilen für mich zum Ausdruck.«

Das A5 Blatt in seiner Hand wird von einer Böe hin- und her gepeitscht, als wäre es eine einzelne Pappel im Auge des Sommersturmes.

Ich lausche bedächtig, wie der Sprecher im Gedicht angesichts seines bevorstehenden Todes Frieden zu finden scheint. Und auch, wenn ich selbst keiner Religion oder Glaubensrichtung angehöre, wünsche ich mir, dass er dem Steuermann aus dem letzten Vers begegnet ist.

Die Worte des Dichters berühren mich tief im Innersten meines Seins. Jene zarten Fäden, die Körper und Seele aneinanderfesseln, surren in mir wie die Saiten eines Cellos. Dad ist hier mit mir, ich kann ihn spüren.

The Sea is Rough TonightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt