Windstärke 10 | Wyatt

544 64 198
                                    

»Alles gut bei Ihnen?«, will die hübsche Dunkelhaarige von mir wissen, der ich eben vor den Einkaufswagen gerannt bin. Zwischen ihren Brauen bildet sich eine tiefe Furche. »Ich dachte wirklich, Sie hätten uns gesehen.«

Ihre Augen liegen auf mir – groß und tiefblau wie der Marianengraben. Schwarzes schulterlanges Haar umspielt ihr Gesicht und die schmalen Schultern wie flüssige Seide. Sie trägt knallbunte superenge Yoga-Leggings und ein eng anliegendes schwarzes Spaghetti-Top mit mehreren dünnen Trägern, die sich in einem raffinierten Muster über den heraus blitzenden Ansatz ihrer Brüste spannen.

Nett.

Ich zwinge mich wegzusehen, denn nach zwei Jahren im Winterschlaf geht neuerdings meine Libido mit mir durch. Zeitweise stehe ich so unter Strom, dass ich an einem Abend gleich zweimal Hand anlegen muss, um nicht die Wände hochzugehen.

Zwar werte ich das als eindeutiges Anzeichen dafür, dass es mit meinem Allgemeinbefinden langsam wieder bergauf geht. Aber mich im Supermarkt an heißen Muttis aufzugeilen, geht selbst mir eine Spur zu weit.

Ich räuspere mich.

»Keine Ahnung, was los war.« Mit einer Hand streife ich mir einige dunkelblonde Strähnen aus dem Gesicht. »Mein Tag war ... anstrengend. Sagen wir's so. Hab' ich Ihnen wehgetan?«

Sie winkt ab und deutet auf den Elektromüll in meiner Hand.

»Uns geht es gut, aber für ihr Handy wird es das wohl gewesen sein.«

Ich lasse die Schultern sinken.

»War nur ein Prepaid Telefon. Ich werd' mir hier gleich ein neues kaufen. Aber ich hab' keinen Schimmer, wie ich meine ganzen Nummern wieder beschaffen soll.«

Zwei Reihen perlweißer Zähne blitzen auf wie in einem Werbespot für Zahnpasta, als sie lächelt.

»Sie sind so lustig. Die sind doch auf Ihrer Speicherkarte hinterlegt. Sie brauchen die dann nur in das neue Handy reinstecken.«

Erst sehe ich das gläserne Spinnennetz und dann wieder sie an.

»Ich weiß gar nicht, ob da eine drin ist. Das Teil hab' ich schon ewig.«

Ein glockenhelles Lachen hallt durch die Gänge des Ladens und lässt ein paar Köpfe in unsere Richtung wippen. Sie streckt mir die Hand entgegen.

»Das bekommen wir raus und ich fände es schön, wenn wir uns duzen würden. Ich bin Cassidy. Das ist meine Tochter Kendra«, sagt sie. »Dein Name ist Wyatt, richtig? Wyatt Byrne?«

Statt ihre Hand zu nehmen, drücke ich mir den Zeigefinger aufs Brustbein.

»Du kennst mich. Woher denn?«

»Elise und ich haben uns beim Hot Yoga kennengelernt. Ich habe sie sogar mal bei euch zu Hause besucht, als sie mich, zusammen mit ein paar anderen, zum Mädelsabend eingeladen hat«, erklärt Cassidy.

»Ach, echt?«

Mein Gegenüber nickt.

»Ja, und du hast den Grill für uns angeworfen. Weißt du nicht mehr?«

Mit einem Mal rieseln Erinnerungsfetzen auf mich nieder wie warmer Sommerregen. Es stiehlt sich ein dümmliches Grinsen auf mein Gesicht. Wie oft findet man schon eine Gruppe angetrunkener Frauen in seinem Garten vor, die sich beim Twisterspielen hysterisch lachend ins Gras purzeln lassen?

»Ah ja, da klingelt was«, gebe ich zurück. »Ihr hattet alle schon ordentlich getankt, als ich von der Arbeit heimkam.«

»Oh Gott, haben wir uns etwa danebenbenommen? Haben wir, oder?«, will sie wissen. »War bestimmt toll, der einzige Normale in einem Garten voller Hühner zu sein.«

The Sea is Rough TonightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt