Schlagendes Herz unter Eis (2)

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Milas Augen versprühen Gift, als ich ihr erörtere, dass wir einen Teller mehr benötigen. Sie fragt nicht mal nach, wer der Gast ist. Sie weiß es und ist damit überfordert, Claudio bereits heute die Wahrheit zu offenbaren. Manchmal muss man das Pflaster abreißen und ich habe das Gefühl, das hier ist so ein Moment.

Ich bin erstaunt, wie hübsch Mila den Tisch hergerichtet hat. Zwar habe ich ihr geholfen, aber der Großteil ist ihr zuzuschreiben. Es hat eine gewisse Tragik, ihr Händchen für die Organisation von Veranstaltungen mit anzusehen und im Hinterkopf zu haben, wie ungern sie selbst welche auslegt. Vor mehreren Jahren haben wir Silvester immer nur zu zweit verbracht, bis ich angefangen habe, meine Freunde einzuladen.

Ich habe meinen künstlichen Blumenstrauß beigesteuert, eine Mischung aus Fahnenkraut und Schnittblumen, während Mila sie in eine ästhetische weiße Vase mit Blumenbemalung gestellt hat. Drei unterschiedlich große Kerzen beleuchten die Tomate-Zucchini-Feta-Happen auf Blätterteig, unsere Vorspeise des heutigen Abends. Inzwischen ist auch Claudio eingetroffen. Er nimmt gemeinsam mit Lennja und Juliana auf der Bank Platz. Die beiden sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Ihre Schwester ist einfach nur die jüngere Version ihrer Selbst. Sie teilen sich Sommersprossen, blonde Haare und die blaue Augenfarbe. Theo und ich besetzen die Stühle gegenüber und Mila sitzt als Gastgeberin am Tischende. Im Hintergrund klimpert leise Time To Say Goodbye von Sarah Brightman. Wir spielen jedes Jahr an Silvester dieselbe Playlist.

Während des Essens ist es überwiegend ruhig. Lennja und ich unterhalten uns über einen neuen Film, den sie unbedingt gemeinsam mit mir im Kino schauen möchte. So wie sie den erklärt, klingt er gar nicht mal schlecht. Den Trailer ziehe ich mir dennoch vorher zu Gemüte. Ihre Schwester will auch mit, bekommt allerdings eine Abfuhr, weil der Film ab sechzehn ist. Umso reizvoller für mich.

»Was macht eigentlich ein Life Coach?«, erkundigt sich Theo, nachdem wir unsere Kinodiskussion beendet haben. Ich runzele verwirrt die Stirn, weil mir nicht ganz klar wird, wie er darauf jetzt kommt. »Die Frage habe ich mir beim Schneiden gestellt«, erklärt er sich.

Für einen kurzen Augenblick bleibt mir die Zucchini im Hals stecken, weil ich mit Mila noch nicht über das Thema Zukunft gesprochen habe. Andererseits war sie nie die Autoritätsperson, die einem vorschreibt, wie man sein Geld zu verdienen hat. Ich entspanne mich und wische mir die Tomatensoße vom Mund. »Das sind Leute, die dich bei deiner Persönlichkeitsentwicklung unterstützen. Es gibt welche, die Videolektionen veröffentlichen und 1 zu 1 Sessions anbieten. Die Arbeit erstreckt sich auf unterschiedliche Lebensbereiche und es wird geschaut, wie mit bestimmten Emotionen umgegangen wird.«

Er lächelt. »Klingt nach etwas, was zu dir passt.«

Mila ist zunächst verwirrt, findet sich dann aber schnell. »Das hört sich wirklich spannend an.«

Ich lächele. »Sicher bin ich mir nicht. Aber ich informiere mich im Moment auf so einigen Instagramseiten. Bin dann immer so neidisch auf die Leute und was sie machen.«

Lennja seufzt. »Ich habe meiner Mutter erzählt, ich möchte Grundschullehrerin werden. Ein total seriöser Beruf eigentlich, aber selbst da meinte sie zu mir: Kindern das 1x1 beibringen, kann sogar Hanswurst. Wenn schon Lehramt, dann bitte fürs Gymnasium. Zum Glück ist ihre Freundin Lehrerin an einer Oberschule, die nahezu alle Stufen unterrichtet hat. Sie hat ihr erstmal verklickert, dass jeder Jahrgang etwas Anspruchsvolles hat.«

Man merkt, wie Mila bei ihren Erzählungen die Gabel fester umklammert. Sie versucht, nichts dazu zusagen. Mit dem Thema hat sie abgeschlossen, da sie weiß, wie wenig es bringt, ihre Schwester umzukrempeln. Mathilda hat dies scheinbar mittlerweile auch akzeptiert. Leider haben sie es nicht geschafft, mit diesen Gegensätzen im jeweiligen Leben des anderen existent zu bleiben.

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