𓂉
»Um das nochmal für mich zusammenzufassen, dieses Kleid wirst du anziehen.« Ich schaue an mir herunter. Weinrot ziehe ich im Alltag nahezu gar nicht an. Die Spitze im oberen Brustbereich hat mir im Laden sofort gefallen. Meine Vorliebe für trägerlose Kleider lässt sich leider oft nicht verwirklichen, weil ich beim Tragen das Gefühl habe, der Stoff würde mir von der Brust rutschen. Durch den hauchdünnen Überzug im Halsbereich bekomme ich Sicherheit und werde dem Look trotzdem gerecht. Skeptisch betrachte ich die Spange mit der roten Hawaiiblume. Too much?
»Du hast recht. Das bin ich nicht.« Die blickdichte Strumpfhose hat nicht mal Löcher. Ich ziehe die Jeansjacke vom Bügel, werfe sie mir über die nackten Schultern, hebe das Handy in die Höhe und drehe mich für Lennja um die eigene Achse. »Besser?«
»Darauf möchte ich gar nicht hinaus. Dein Outfit ist toll, auch wenn ich die Jacke durch eine gefütterte Stola ersetzen würde und mir Perlenohrringe reinmachen würde, aber das ist Geschmackssache. Wir weichen vom Thema ab. In diesem Kleid holt dich Theo gleich zur Weihnachtsfeier ab und du willst mir ernsthaft verklickern, dass das kein Date ist.«
Mein Kopf gleicht sich der Farbe des Kleids an, als mir bewusst wird, worauf Lennja hinaus will. Möglich, dass tief in mir ein Teil existiert, der sich heute für Theo extra aufgehübscht hat. Aber ein anderer, viel größerer, weiß von seinen Problemen und dass ich ihn nur treffe, um ihm zu helfen. Außerdem ... »Er mag mich nicht auf die Weise. Er kommt mit als Freund, damit ich nicht allein aufkreuze, weil Miss Beschäftigt ja Wichtigeres zu erledigen hat.«
Beleidigt schaut mich Lennja aus der FaceTime-App an. Das Kinn hat sie in den flauschigen Stoff ihres Christmas-Pullovers gebettet. Manchmal trägt sie diesen bis in den März hinein, trotz der Rentiere und Schneemänner auf der Brust. Sie ist der geborene Winter-Mensch. »Hey! Du weißt, wie traditionsbewusst Mama ist. Weihnachten, alle Tage, verbringt man mit der Familie. Ihre Worte, nicht meine.«
Theoretisch möchte ich Lennjas Mutter dafür hassen, kann es aber nicht. Immerhin hat sie eine Familie, die mit ihr die Feiertage verbringt.
»Morgen erzählst du mir jedes Detail. Dann ist es, als wäre ich da gewesen«, schlägt sie vor und ich nicke.
Das Geräusch unserer Klingel lässt mich fast das Handy aus der Hand fallen. Ich schaue auf die Uhr. Er ist zwei Minuten zu früh. Theo, Mr. Ich-komme-immer-zu-spät, ist zwei Minuten zu früh. Ich halte die Kamera noch ein letztes Mal auf meinen Körper. »Kann ich so losgehen?«
Ich befeuchte den Finger und wische mir den schwarzen Punkt über dem Lidstrich weg. »So.«
Lennja grinst mich nur amüsiert an. »Mach alles, was ich auch tun würde. Und noch mehr.«
Ich streiche mir ein letztes Mal über die Falten meines Kleides. »Bis dann.« Ich stecke das Handy in die VW-Bulli-Schopper-Tasche. Mit dem Fleecestoff und den groben Nähten auf dem Bulli-Bus passt sie zwar nicht zum eleganten Kleid, aber seitdem ich die letzte im Zug vergessen habe, habe ich mir keine neue angeschafft.
Mila hat ihm bereits die Tür geöffnet. Auch Claudios Stimme höre ich von unten. »So sieht man sich wieder!«, begrüßt Claudio Theo überschwänglicher als für ihn typisch.
»Ihr kennt euch?« Die Neugierde aus Milas Stimme ist nicht zu überhören. Sie wird sich fragen, warum er mich zur Party begleitet und nicht Lennja.
»Ja, er war zusammen mit Ayliz bei mir zum Boxen.« Ich schreite die Treppenstufen nach unten nur langsam hinab. Ich habe das Gefühl, es ist das Beste, diese anstehende Unterhaltung so weit wie möglich hinauszuzögern.
Leider bemerkt mich Mila schon, obwohl uns einige Stufen voneinander trennen. »Warum kenne ich Theo noch nicht?« Sie hat ihn nach seinem Namen gefragt. Gar nicht neugierig.
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Was Eisberge verbergen
Roman pour Adolescents»Warum lässt du dir nicht helfen?« »Die bessere Frage wäre, warum mir niemand hilft.« 𓂉 Ayliz lebt als ambitionierte Streitschlichterin nach folgendem Kodex: 1.) Streitschlichtende sind stets neutral. 2.) Die Streitschlichtung bleibt vertraulich. 3...